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Realität

von nightingale_


Es ist kalt, während ich auf den Leitplanken vor dem Geländer der Brücke sitze und auf die Autobahn hinunterblicke. Wind kommt auf, irgendetwas weht durch die Felder zu meinen Seiten. Ich kann nicht erkennen, was. Es ist zu dunkel.
Ich wende mich wieder der Autobahn und den unter mir vorbei rasenden Autos zu.
Lauter Lichter. Hellgelb durchleuchten sie die Nacht. Warmgold. Gefährlich rot. Verirrte Wünsche und verpasste Möglichkeiten.
Ich stelle mir vor, dass ich in einem dieser Autos sitze. So wie ich es früher tat. Mit dir.
Ich erinnere mich an das Gefühl, das mich durchströmte, während ich deine Hand nahm. Du lächeltest, blicktest von der Straße auf, kurz zu mir, wieder zurück. Die Lichter des Armaturenbretts hüllten dein Gesicht in einen warmen Schein, die Umrisse nur angedeutet, deine Augen dunkle Schatten und doch am Glänzen.
Ich stelle mir vor, dass ich dort sitze, in einem der Autos, die unter mir hinwegrasen.
Ich stelle mir vor, ich wäre an diesem einen Abend nicht gegangen.
Ich stelle mir vor, es wäre, wie es früher gewesen war.
Früher, als wir uns geliebt haben. Früher, als der Alltag uns noch nicht eingeholt hatte, als uns die Anwesenheit des Anderen mit einer solchen Freude erfüllte, dass wir allein schienen, allein auf der gesamten weiten Welt. Leichtigkeit. Nur wir beide in diesem Auto, umhüllt von Dunkelheit und Licht. Unsere eigene kleine Welt. Unsere gemeinsame Welt. Unsere Träume und Wünsche…
Ich frage mich, was aus uns geworden ist. Wie es je zu dem kommen konnte, was jetzt ist.
Ich erinnere mich an die gemeinsamen Spaziergänge in der Dunkelheit, ich erinnere mich, wie wir Hand in Hand gingen und zwischenzeitlich stehen blieben, um die Sterne zu betrachten oder uns zu küssen.
Ich erinnere mich an die innere Verbundenheit, an das Gefühl der Unendlichkeit.
Loslassen. Frei sein. In unserer eigenen, gemeinsamen Welt.
Was ist nur aus uns geworden?
Wie konnte aus etwas so Perfektem etwas derartig Fremdes werden?
Wie ist es möglich, dass etwas, das für die Ewigkeit bestimmt schien, so einfach zerbrach, in zwei Teile, zwei Welten, die vollkommen fremd voneinander existieren?
Ich stelle mir vor, wir hätten es hinbekommen. Ich stelle mir vor, ich wäre an diesem Abend nicht gegangen und wir würden nun gemeinsam in einem dieser Autos sitzen, die unter mir herrasen. Ich stelle mir vor, wie ich meine Hand auf deine Knie lege und wie du lächelst und wie wir glücklich sind. So glücklich, wie wir es immer miteinander waren.
Ich stelle mir vor, wie du deine Hand bewegst, um in einen anderen Gang zu schalten und anschließend meine Hand nimmst. Mich ansiehst. Wie ich nervös auf die Straße blicke, damit wenigstens eine von uns diese im Blick behält. Ich stelle mir vor, wie wir auf einen Parkplatz fahren. Ich stelle mir vor, wie wir uns küssen, nur um dann die Fahrt wieder aufzunehmen.
Wo kommen wir her, wo fahren wir hin?
Ich überlege einen Moment lang aufzuspringen, die Gassen entlangzulaufen, in mein Auto zu steigen und zu dir zu fahren. Vor deiner Tür zu stehen und dich an die alten Momente zu erinnern. An die alten Gefühle. Und was wir einander bedeuteten.
Aber es ist zu viel Zeit vergangen.
Und in der Realität kennen wir uns gar nicht mehr.




copyright © by nightingale_. By publishing this on lesarion the author assures that this is her own work.



comments


Ein schöner Text...
... berührend-traurig-schön!
WolkeRot - 24.01.2016 22:52

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