von Schully
Sally, eine junge Frau, gerade 21 geworden, klopfte sich den Schnee von dem Skischuh und schnallte sich auch die zweiten Ski an. Dann glitt sie lautlos zum Beginn der Piste und stieß sich mit ihren Stöcken ab.
Schon wenige Sekunden später flog die Piste mit atemberaubendem Tempo unter ihr weg, während sie in kurzen und schnellen Bögen die schwarze Piste hinabsauste. Der pulverige Schnee, der Meter dick über dem Gletschereis lag, flog zu beiden Seiten weg, während sie hindurch carvte.
Mit der eiskalten Luft sog sie ein Gefühl von Freiheit und die Unendlichkeit der ewigen Eiswüste um sie herum ein.
Sie hatte nur die eine Fahrt alleine für sich, also genoss sie die Ruhe auf der morgendlichen, noch leeren Piste. Am Ende der Liftstation würde sie sich mit ihren zwei Freundinnen treffen.
Die drei kamen trotz des Altersunterschiedes mehr als gut miteinander aus. Sally war sechs Jahre jünger als die beiden anderen und somit das „Küken“ in dem Trio. Dennoch hatte sie vor allem zu Sue eine ganz besondere Beziehung.
Eine halbe Stunde später sauste Sally nicht mehr allein durch das Skigebiet. Neben ihr jagten ihre Freundinnen Catrin und Sue her, die ebenfalls Ski fuhren, seit sie klein waren. Der Schnee schien, so wie sie fuhren, bei allen dreien ein Teil ihres Lebens zu sein.
Sally war schon mit vier Jahren zum ersten Mal im Skiurlaub gewesen, damals zusammen mit ihren Eltern in der Schweiz. Seit sie nicht mehr bei ihren Eltern lebte und berufstätig war, konnte sie es sich nicht mehr leisten jedes Jahr in Skiurlaub zu fahren, aber sie versuchte so oft wie möglich im Winter Urlaub in der Bergen zu machen.
Sue blieb abrupt stehen. Gerade rechtzeitig konnten Sally und Catrin noch die Kurve ziehen und hüllten Sue so in eine dicke Schneewolke ein.
Als sich der Schneenebel wieder legte, mussten beide losprusten: Sue hatte enorme Ähnlichkeiten mit einem Schneemann, wie sie da eingemummt und über und über mit Schnee bedeckt stand. Sue hatte allerdings weniger zu Lachen, während sie sich den Schnee wieder von ihrer Kleidung klopfte und die Brille zum Putzen abnahm.
„Leute… da gibt es nichts zu Lachen…also wirklich!! Egal.. ich hab ne spitze Idee… das kleine Skigebiet hier geht mir nämlich ernsthaft auf den Senkel. Seht ihr da hinten die Absperrung?“ Sei deutete auf eine leuchtende Schnur, die an einem Pfeiler befestigt war. Auf einem nebenstehenden Schild war zu lesen: „ACHTUNG!! GLETSCHERSPALTEN!!!“
Sally und Catrin nickten und drehten sich zurück zu ihrer Freundin um, die ein breites Grinsen aufgesetzt hatte.
„Na?? Was haltet ihr davon, wenn wir mal ne etwas interessantere Skitour machen?“ Catrin grinste nun ebenfalls, doch Sally war so ganz und gar nicht begeistert. „Spinnt ihr? Das könnt ihr nicht machen!! Wisst ihr wie gefährlich das ist?“ Doch an den Blicken der beiden anderen erkannte sie, dass es keinen Zweck hatte zu widersprechen. Nun ging es nur noch darum, ob sie, Sally, mitkommen würde, oder nicht. Und natürlich wollte sie die beiden nicht alleine losfahren lassen. Entweder alle, oder keiner. Und so blieb ihr nichts anders übrig, als hinter ihren Freundinnen, die bereits unter der Absperrung hindurch geglitten waren, her zu fahren.
Schon Minuten später sah Sally die dunklen Wolken, die langsam den Berg hinauf krochen, doch sie behielt ihre üble Vorahnung für sich. Ihre Freundinnen wären eh nicht auf sie eingegangen und zurück ins gesicherte Skigebiet gefahren und außerdem reichte es schließlich, wenn sie selbst beunruhigt war. Jetzt musste sie die anderen nicht auch noch in Panik versetzen.
Doch bald konnten die drei Freundinnen nicht mehr leugnen, dass das Wetter immer schlechter wurde. Leichter Nebel hatte sie bereits eingehüllt, so dass sie das gesicherte Gebiet nur noch leicht erkennen konnten. Auf Sallys Bitte, doch endlich zurückzukehren, gingen die beiden anderen trotzdem nicht ein. Warum, war Sally ein Rätsel und sie spürte wie Angst ihre Kehle hinauf kroch.
Nach kurzer Zeit waren die drei jungen Frauen von dichtem Nebel eingehüllt und konnten kaum noch die eigene Hand vor den Augen erkennen.
Schon bald verloren sie sich zeitweise gegenseitig aus den Augen. Als Sally einen Schatten wenige Meter von sich entfernt sah, war sie erleichtert. Mit Tränen der Angst in den Augen schloss sie Catrin in die Arme und fragte stotternd nach Sue. Doch auch Catrin hatte sie aus den Augen verloren. So standen die beiden da, mitten in der Schneewüste, eingehüllt von Nebel, umarmten sich, um sich nicht noch mal zu verlieren und warteten darauf, dass der Nebel sich ein wenig lichtete, sodass man wenigstens etwas erkennen konnte.
Plötzlich vernahmen sie einen schrillen Schrei und dann das dumpfe Geräusch, welches entsteht, wenn ein Gegenstand nachdem er eine gewisse Höhe zurückgelegt hat, auf hartem Untergrund aufschlägt. Sally und Catrin zuckten zusammen. Tränen liefen über Sallys Wangen und sie wollte sich gar nicht ausmalen, wo Sue geblieben war.
Es schien ihr, als ob Stunden vergangen wären, bis sich endlich der Nebel etwas lichtet.
Als sie es wagen konnten nach Sue zu suchen, machen sie sich direkt auf den Weg in die Richtung aus der sie den Schrei gehört zu haben glaubten.
Als die beiden die Gletscherspalte sahen, die sich nur wenige Meter von ihnen entfernt durch den Boden zog, blieb ihnen das Herz stehen. Nicht nur, dass sie erkannten, wie knapp sie selbst dem Abgrund entgangen waren, sie konnten sich nun auch vorstellen, woher das dumpfe Geräusch hergerührt hatte.
Diese Erkenntnis ließ Sally das Blut in den Adern gefrieren. Sekundenschnell schnallte sie die Skier ab und kroch vorsichtig zum Rand der Spalte, dicht gefolgt von Catrin.
Das Bild, was sich Sally am Rand des Abgrundes bot, überragte ihre schlimmsten Vermutungen. Es war schlimmer als alles, was sie bisher erlebt hatte:
Sue lag mit verdrehten Gliedern auf einem Eisvorsprung. Ihre Skier waren in der dunklen Tiefe der Spalte verschwunden, genau wie ihre Mütze. Sally konnte die Blutlache, die sich unter Sues Kopf gebildet hatte, erkennen.
Als sie sich aufrichtete wurde ihr schwarz vor den Augen. In ihrem Kopf sah sie, auch wenn sie die Augen schloss, immer die Bilder von Sue, wie sich dort unten so leblos lag. Sie glaubte den Verstand zu verlieren.
Sie war kurz davor ebenfalls in den Abgrund zu springen. Sie sah kein Sinn mehr in ihrem Leben, nachdem sie diese schrecklichen Bilder gesehen hatte. Ihr flossen die Tränen über die Wangen und in den weißen, so unschuldig aussehenden Schnee, doch Sally nahm ihre Umwelt nicht mehr wahr.
Sue war für Sally nicht irgendeine Freundin gewesen.
Tief in sich spürte Sally, wie ihr das Herz herausgerissen wurde. Sie fühlte sich wie eine leblose Hülle. An ihrem inneren Auge ließen Bilder vorbei, wie in einem Film, der in Zeitraffer abgespielt wurde. Bilder, von ihr und Sue. Von dem ersten Tag, an dem sie sich gesehen hatten. Wie sie sich in die Augen geschaut hatten und augenblicklich ihre Herzen schneller geschlagen hatten. Sally fühlte, als wäre es erst gestern gewesen, wie sich alles drehte, während sie sich den ersten von so vielen Küssen gaben. Sie sah Bilder von ihren nackten Körpern an sich vorbei rasen, wie sie eng umschlungen im Bett lagen und immer wieder hörte Sally das so schöne, so ansteckende, so einmalige Lachen von Sue, wenn sie sich über irgendetwas freute. Aber nur in ihrem Kopf.
Die Geräusche aus der Realität wahr zu nehmen, war sie nicht mehr in der Lage. So spürte sie selbst nicht, wie sie wie vom Teufel besessen anfing zu schreien. Sie schlug um sich und schrie. Schrie, als ob sie versuchte, so Sue wieder zurück in ihre Welt zu holen.
Catrin hatte Sally in den Armen. Sie war eine der wenigen, die wusste, welch innigen Gefühle, wie beiden verbunden hatte und schien nun zu versuchen, Sally davor zu bewahren, in den Abgrund hinab zu springen, nur um nicht ohne Sue in dieser Welt zu bleiben.
Sally, die wild um sich schlug und immer noch schrie, versuchte, sich aus Catrins Armen zu befreien, sie wollte zu Sue! Sie sah einfach keinen Sinn mehr darin, ohne sie weiterzumachen.
Doch irgendwann verließen sie ihre Kräfte. Minuten später sank sie erschöpft in Catrins Armen zusammen. Sie spürte, wie Catrin sich, sie immer noch im Arm, vorsichtig in den Schnee setzte. Sie spürte, wie Catrin sie ganz fest an sich drückte und beruhigen auf sie einsprach. Sally konnte nicht anders: Sie weinte und weinte, während Catrin ihr immer wieder über den Kopf streichelte.
Plötzlich, war es nicht mehr Catrin, die ihre Arme um Sally legte und beruhigend auf sie einredete.
Sally blickte, als die den Kopf hob, durch den Tränenschleier, direkt in Sues Augen.
Ihr Herz schlug schneller.
Sue drückte sie an sich und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann hob sie zärtlich Sallys Kopf und ihre Lippen schlossen sich um die Sallys.
Immer wieder flüsterte Sue: „Alles ist gut, alles ist gut… es war nur ein Traum, ein schrecklicher Traum!“, und Sally sank erschöpft und erleichtert in Sues Arme.
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