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Ein Mädchen auf der Suche nach Antworten

von Laurali


„... und als wir im Kino waren, hat er irgendwann seinen Arm um mich gelegt und dann, bei der romantischsten Stelle im ganzen Film, hat er mich geküsst!“, erzählt Melly mit strahlenden Augen und verzücktem Gesichtsausdruck. Ich nicke nur und ringe mir ein Lächeln ab. Wie schön. Für sie. Oh, das klingt sehr verbittert, oder? Das bin ich nicht. Ein bisschen vielleicht. Aber ich freue mich für Melly, auch wenn man es nicht so wirklich merkt. Sie ist meine Freundin, die beste, die es geben kann & ich liebe sie abgöttisch, aber das Ding mit der Liebe ist einfach nicht so meine Sache.
„Du sagst ja gar nichts dazu!?“, mault sie mit beleidigtem Gesichtsausdruck. Sie sieht aus wie ein kleines Kind, dem man den Lolli weggenommen hat; die Unterlippe nach vorne geschoben, Augen weit aufgerissen. Ich muss lachen und die Unterlippe wandert noch ein Stück nach vorne. „Ach, Melly!“, sage ich, nun laut lachend, „Ich freue mich doch für dich!“ Ich umarme sie ganz fest und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Jetzt strahlt sie wieder. Ja ja, ein Mädchen glücklich zu machen ist so leicht (vor allem, wenn sie ohnehin vorübergehend hormongesteuert ist). Eigentlich...
Gut, dass in dem Augenblick die Schulglocke läutet, so kann ich nicht weiter über Liebe und Glücklichsein nachdenken. Melly und ich sind beide in der 13. Klasse, stehen kurz vor dem Abi. Sie ist im Ästhetischen Profil, ich im Gesellschaftswissenschaftliche n, obwohl ich eine totale Niete in Erdkunde – dem Profilfach – bin. Mir liegen mehr die Sprachen, aber ich wollte Latein unbedingt abgeben. Zu trocken, zu alt, zu tot.
In der folgenden Stunde haben wir Deutsch, mit Englisch zusammen mein Lieblingsfach. Wir analysieren und interpretieren mal wieder irgendwelche Balladen über schmachtende Jünglinge, verschmähte Jungfrauen und unglückliche Liebe. Voll mein Ding. Meine Gedanken schweifen ab, schwirren um den Erdball herum, ins Universum, durch die Milchstraße,...
Ja ja, die Liebe. Ich hasse dieses Thema, trotzdem begleitet es mich seit einiger Zeit fast tagtäglich. Immer und immer wieder frage ich mich: Was ist das eigentlich - „Liebe“? Wie können Milliarden von Menschen an etwas glauben, was gar nicht zu sehen ist? Sich immer wieder von der unsichtbaren Macht täuschen lassen, sich das Herz brechen, zerreißen, zerfetzen lassen? Für etwas, das nur im Kopf existiert? Ich kann diese Menschen nicht verstehen, die sich so blenden lassen. Ich selbst habe so etwas noch nie gefühlt, habe keine Ahnung von den berühmten „Schmetterlingen im Bauch“, dem berüchtigten „Kribbeln“ oder „nur an IHN denken“. Natürlich hatte ich schon Freunde, aber nur, weil alle sie hatten. Die besagten Gefühle blieben aus. Ich hatte immer den Eindruck, es fehlt etwas. Etwas wichtiges. Und dass das irgendwie nicht „richtig“ ist. Ich hatte auch erst mit einem einzigen Jungen Sex. Und ich bin 18! Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt...
Meine Gedanken werden jäh durch das Klingeln der Schulglocke unterbrochen. Ich nehme meine Sachen und will den Raum gerade verlassen, da sagt Frau Grothe: „Leonie, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“ Ich nicke, stelle mich vor das Lehrerpult und lächle sie freundlich an. Angriff ist nicht in allen Situationen die beste Verteidigung, hier ist Charme gefragt! Frau Grothe wartet netterweise noch, bis alle Schüler verschwunden sind (das sieht nach Ärger aus!), dann sagt sie: „Ich mache mir ernsthaft Sorgen, Leonie, dass Sie Ihr Abitur nicht schaffen. Wir sind gerade in der Endphase und Sie sind zunehmend unkonzentrierter, beteiligen sich nicht am Unterricht und in der letzten Klausur hatten Sie gerade mal 6 Punkte. Sie waren mal eine meiner absoluten Spitzenschülerinnen! - Gibt es etwas, worüber Sie gerne reden würden? Belastet Sie etwas? Probleme Zuhause, Streit mit Freunden, Liebeskummer?“ Ich fühle mich dezent überfordert. Was will die von mir? Ich habe keine Probleme. Ok, das Ding mit der Liebe, aber das würde ich nicht als großartiges Problem bezeichnen. Als unangenehmen, störenden Selbstkonflikt vielleicht. Allerdings habe ich keine Lust, ihr das auf die Nase zu binden. Statt einen Seelen-Striptease zu leisten, lächle ich sie also nur noch einmal nett an, winke mit einem „Nein, es ist alles super“ ab und gehe. Vor der Tür wartet Melly auf mich. „Was wollte die denn?“, fragt sie argwöhnisch. „Ach, nichts.“, lüge ich. „Ok...“ Sie sieht mich an, durchleuchtet mich mit ihrem Blick. Irgendwie ist mir das unangenehm. „Wollen wir in die Stadt gehen oder so?“, lenke ich schnell ab. „Hm, ich muss eigentlich nach Hause, ich bin später noch mit Chris verabredet und ich soll Mama vorher noch helfen. Einkaufen und so.“, Melly verzieht das Gesicht. „Ach so...“, murmle ich. „Tut mir Leid..“, sagt sie mit bedrücktem Unterton. „Wir können ja morgen irgendetwas machen. Ist ja Wochenende!“ Sie strahlt mich an. Ich nicke nur. Sie merkt, dass mir gerade nicht so nach tieferen Konversationen ist. „Ok, ich ruf' dich morgen an,ja?“ Sie umarmt mich, lächelt noch einmal und geht mit einem „Tschüssili“.
Ich nicke noch einmal, krame meinen I-Pod aus der Tasche und katapultiere mich mithilfe der Musik in eine andere Welt. Der Weg nach Hause kommt mir heute unendlich weit vor und ich habe das Gefühl, als hätten alle Pärchen unserer Stadt sich abgesprochen, nur um mich zu ärgern.
Als ich endlich unser Haus erreiche, kommt mein Bruder mir entgegen. „Hey, Leo!“, er hebt die Hand, ich klatsche ein. „Alles fresh?“. „Joa, geht.“, entgegne ich. Er sieht mich an. „Hast du jetzt irgendwas vor?“ Ich zucke mit den Schultern. „Nö, eigentlich nicht.“ Er packt mich am Arm, schleift mich mit. „Ok, wir gehen 'ne Runde an See, bisschen abschalten und so.“
Eine halbe Stunde später sitzen wir am See, reden und rauchen. Ich erzähle Tom von dem Verdacht, den Frau Grothe hat, von wegen ich hätte Probleme. Er lacht nur und sagt: „Frau Grothe hat immer so 'ne psychologischen Anfälle. Sobald man mal 'n Durchhänger hat, vermutet sie irgendwelche tiefer gehenden Gründe dafür!“ Ich sehe ihn an, betrachte ihn für eine Weile. Er schaut mich ebenfalls an, lächelt. „Schwesterherz, mach' dir nichts draus. Du bist ganz sicher kein Problemkind. Und bald wirst du bestimmt wieder ihre Lieblingsschülerin sein!“ Er knufft mich kumpelhaft in die Seite und in dem Augenblick bin ich unendlich froh, einen großen Bruder wie ihn zu haben.

Am Abend gehen Josi – eine Mitschülerin – und ich in die Kneipe. Nach einigen Bieren fragt sie mich: „Was geht bei dir eigentlich so in Sachen Liebe?“ „Na ja.. nichts.“, antworte ich zögernd. Was soll da gehen?, denk ich im Stillen. „Und bei dir?“ Schnell ablenken. „Ich bin seit einigen Tagen in einer Beziehung.“ Sie lächelt und fügt hinzu: „Mit einem Mädchen.“ Fassungslos schau' ich sie an. „Echt jetzt?“ „Ja!“, sagt sie und lacht wieder. Dann wird sie wieder ernst. „Ist das ein Problem für dich?“. „Ähm...nein,nein“, stottere ich, „das kam nur so unerwartet und ist irgendwie...gewöhnungsbedürfti g.“ Ich versuche ebenfalls ein Lächeln. Josi und lesbisch? Das ist ein komischer Gedanke. Ich dachte immer, Lesben seien irgendwie...männlicher. Aber sie hat lange, blonde Haare, ist geschminkt (und das nicht gerade wenig!), trägt hautenge Klamotten und wird allzu oft von Männern mit bewundernden Blicken bedacht. Ich hatte mir Lesben immer mit kurzen Haaren, Männerkleidung und wenig Weiblichkeit vorgestellt.
„Klar, das kann ich verstehen“, reißt Josi mich aus meinen Gedanken, „ich selbst musste mich auch erstmal dran gewöhnen. Anfangs wollte ich es nicht wahrhaben, weil ich dachte, das würde nur Probleme machen. Aber meine Eltern haben es super aufgenommen und mich auch unterstützt, das hat mir sehr geholfen. Und viele meiner Freunde finden's sogar cool. Ist ja schon irgendwie was besonderes.“ Ich nicke, immer noch meinen Gedanken nachhängend. Könnte es sein...? Wäre es möglich...? Bin ich vielleicht auch...lesbisch? Ich verdränge den Gedanken schnell wieder. Nur weil ich liebesgestört bin, bin ich ja nicht gleich 'n Homo. Nö, nö, nö. Seh' ich gar nicht ein. Ich beginne ein unbefangenes Gespräch über unser derzeitiges Thema in Biologie. Aber das beklemmende Gefühl lässt mich nicht los...

„Leoniiiie! Leeeooniiiee!“ Irgendetwas rüttelt an meinem Arm. Ich öffne meine Augen einen Spalt. Gellendes Tageslicht blendet mich, sodass ich gezwungen bin, sie wieder zu schließen. „Leonie!“, quakt meine Mutter weiter, Ich setze mich auf, reibe mir die Augen. „Was denn!?“. „Telefon!“, entnervt drückt sie mir das Telefon in die Hand, dreht sich um, geht raus. „Liegst du noch immer in den Federn?“, fragt die Stimmer meiner Lieblingsfreundin am anderen Ende der Leitung. „Es ist schon halb 1, ich hab' schon zehnmal oder so angerufen!“. „Ja ja...“, murmle ich. Mein Kopf schmerzt, vielleicht hätte ich das ein oder andere Bier weglassen sollen.
„Was wollen wir denn nachher machen? Ich bin dafür, wir treffen uns nachher mit Chris und seinem Kumpel, wir könnten Eis essen oder an deinen geliebten See, picknicken oder so.“, quasselt Melly drauflos. Ich bin leicht überfordert. „Ich weiß nicht...“, setze ich an, doch sie unterbricht mich. „Chris' Freund sieht gar nicht mal schlecht aus. Und nett ist er auch. Er wäre sicher was für dich!“. Ich seufze, Gesprächsfetzen des vorangegangenen Abends kommen mir in den Sinn. „Nee, du, ich glaube, ich möchte heute lieber Zuhause bleiben.“, sage ich. „Warum?“, fragt Melly fassungslos. „Ach, ich hab Kopfschmerzen und fühle mich insgesamt irgendwie... nicht so gut.“, antworte ich. „Hm, ok. Schade.“, erwidert Melly. Im Hintergrund höre ich ihre Mutter rufen. „Melly, magst du mir ein Mal kurz helfen?“. „Mama ruft.“, sagt sie genervt. „Ja, hab ich gehört. Wie sehen uns dann Montag. Tschüss.“ Ich lege schnell auf. Wie anstrengend Frauen sein können. Ständig fragen sie wieso, weshalb, warum. Wieder denke ich an das Gespräch mit Josi. Vielleicht sollte ich sie fragen, wie sie...- ich verwerfe den Gedanken, bevor ich ihn zu Ende denken kann. Nein, dieser Demütigung gebe ich mich nicht hin. Wobei, ich könnte ja auch aus reinem Interesse an ihrer Person fragen. Weil mich das einfach neugierig gemacht hat, ich mich frage, wie sie darauf kam, überhaupt in solche „Kreise“ gefunden hat.
Ich komme mir selten dämlich vor. Sicher würde sie schnell dahinter kommen, was ich eigentlich wissen möchte, nämlich, wie man überhaupt darauf kommt, woran man das merkt, dass man „am anderen Ufer“ steht, ob es ein sogenanntes „Schlüsselerlebnis“ gibt, wie es sich anfühlt, mit einer Frau zusammen zu sein, wie die Umwelt, Fremde auf der Straße, reagieren, ob es sich alles genauso anfühlt wie mit einem Mann,...
In meinem Kopf drehen sich die Gedanken wie in einem Karussell und plötzlich habe ich noch tausend Fragen mehr. Fragen, auf die ich wohl so schnell keine Antworten kriegen werde.
Ich lasse mich rücklings auf mein Bett fallen, ziehe mir die Decke über den Kopf und schließe die Augen. Bloß weg mit den unangenehmen Gedanken, weg aus dieser verwirrenden Welt, weg von hier.
Gerade als ich beschließe, den restlichen Tag ebenfalls im Bett zu verbringen, kommt meine Mutter wieder ins Zimmer. „Wann hast du denn vor aufzustehen?“. Genervt schlage ich die Decke zurück. „Ich weiß nicht?!“. „Dann mal los, du bist hier nicht im Hotel!“, sagt sie, macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder. Unten höre ich sie in der Küche mit Töpfen und Besteck klappern. Ich bin irgendwie fassungslos. Da geht man zu Schule, reißt sich den Arsch auf, um die Eltern mit einem gut bestandenen Abitur zufrieden zu stellen und dann bekommt man sowas zu hören, weil man ein Mal bis mittags im Bett liegt. Super, Passt mir in meiner momentan sowieso etwas schwierigen Lebenslage perfekt in Kram.
Ich strample die Decke weg, robbe mich aus dem Bett, stelle mich vor den Spiegel. Betrachte mich. Lange. Länger als sonst. Was ich sehe, sieht ganz und gar nicht lesbisch aus; halblange Haare, mehr als genug Oberweite, klein, schlank,... man bekommt keinen Eindruck einer wilden Kampflesbe. Aber Josi hat mir ja gezeigt, dass man nicht lesbisch aussehen muss, um es zu sein. Das Herz zählt ja. Wieder so ein Ding, was man nicht sehen kann, es sei denn, man schlitzt jemandem den Brustkorb auf. Das Herz sieht nicht mal besonders schön aus. Ich kenne mich damit aus, wir haben in Bio vor ewigen Jahren Schweineherzen seziert, deren Herzen sollen dem des Menschen ja ziemlich ähnlich sein. Bei dem Gedanken an das Schweineherz, das damals vor mir auf dem Tisch lag, schüttelt es mich. Ich öffne die Schranktür, greife wahllos nach irgendwelchen Klamotten und gehe duschen.

Als ich eine halbe Stunde später, noch mit tropfenden Haaren, in die Küche getapst komme, sitzen meine Eltern und Tom schon am Tisch und essen.
„Na, bist du auch endlich von den Toten wiederauferstanden?“, fragt mein Vater augenzwinkernd. Ich kann nicht anders, muss lächeln. Ich liebe meinen Vater unheimlich. Er ist lustig, locker, hat immer einen witzigen Spruch oder einen guten Rat auf Lager, je nachdem, was man gerade braucht. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die verteilt die Ratschläge besonders dann, wenn man sie nicht braucht, ist verklemmt, nervig und taucht meist in den unpassendsten Momenten auf. Ich gehe zum Schrank, nehme mir eine Kopfschmerztablette und spüle sie mit einem Glas Wasser herunter. Dann setze ich mich an den Tisch, beginne, wie die anderen, zu essen.
„Und wie war's gestern?“, erkundigt mein Vater sich. „Nett.“, erwidere ich knapp, widme mich ganz meinen Spagetti. „Warst du lange weg?“, beginnt meine Mutter zu bohren. Ich schüttle den Kopf. „Nö, war schon um viertel nach 1 Zuhause.“ Sie schnaubt. Ihr Blick verrät sie. Am liebsten würde sie sagen: „ SCHON!? Also, ich damals musste ja in deinem Alter bereits arbeiten..“. Bla bla bla. Ich versuche, nicht allzu genervt auszusehen. Irgendwie fühle ich mich heute wie ein Schweinesteak in der Tiefkühltruhe. Beobachtet, auf Qualität geprüft. Schmecke ich denn auch gut? Ich muss unwillkürlich grinsen. Glücklicherweise sieht das niemand, sonst würde meine Mutter solange nachhaken, bis ich ihr den Grund für mein Lachen mitteile. Und so wie ich sie kenne, würde sie den nicht verstehen können. Sie ist halt auch nur ein Spießer, irgendwie.
Nach dem Essen spülen Tom und ich das Geschirr. „Bedrückt dich wirklich nichts? Irgendwas?“, fragt er nach einer Weile plötzlich. Ich stocke. Soll ich ihm von meinen Gedanken erzählen? Ihm sagen, dass ich in Wirklichkeit Angst habe, „unnormal“ zu sein, entwicklungsgestört, wenn nicht sogar beziehungsgestört? Dass ich wie ein Stein bin, gefühllos und kalt, was Beziehungen mit Jungs angeht? Dass ich in Erwägung ziehe, vielleicht noch nicht mal an Männern interessiert zu sein?
Ich schüttle den Kopf. „Nö, alles gut.“ Lächeln. Er wird es mir schon glauben, ich wundere mich über mich selbst. Tom ist der beste und tollste große Bruder, den man sich nur wünschen kann, er versteht mich eigentlich immer...warum also erzähle ich ihm nicht von meinen Sorgen? Ist das Thema wirklich so peinlich wie ich glaube? Irgendwie ja schon. Aber ich weiß auch, dass er mich niemals auslachen würde. Trotzdem schweige ich lieber. Ist wohl besser so. Er sieht mich an, es ist genau so ein „Durchleuchtungsblick“ wie ich gestern von Melly bekommen habe. „Bist du dir sicher?“. „Ja! Hundertprozentig!“, sage ich mit gespielt genervtem Unterton. Zieht bei ihm normalerweise immer, wie auch heute; er zuckt nur mit den Achseln und trocknet weiter das Geschirr ab. Thema beendet, Leben geht weiter.

Als ich wieder in meinem Zimmer auf der Fensterbank sitze und meinem Lieblingshobby – rauchen – nachgehe, spiele ich wieder mit dem Gedanken, Josi anzurufen. Doch irgendwie habe ich nicht den Mumm dazu. Die Angst, dass sie mich ertappen könnte, ist zu groß. Aber was wäre so schlimm daran, wenn das passieren würde? Irgendwann stellt sich doch so gut wie jeder die Frage, in welche Richtung er gehen will. Und es gibt ja auch noch die Möglichkeit, sich weder für rechts noch für links zu entscheiden, sondern irgendwo in der Mitte stehenzubleiben.
Trotzdem bleiben die Hemmungen. Wenn nun nicht alle diese Gedanken irgendwann haben? Dann gehöre ich zu dem geringen Anteil, der eben doch irgendwo „unnormal“ ist. Ich selbst hatte noch nie Kontakt mit Homosexuellen, weder Frauen noch Männer. Das zeigt ja schon, dass lesbisch oder schwul sein doch eher selten ist. Wieder habe ich Kopfkarussell. Am liebsten würde ich mich wieder ins Bett legen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Nie wieder aufstehen. Das wär's.
Aber auch dort wäre ich nicht vor den konfusen Gedanken sicher.
Habe ich je eine Frau mit anderen als freundschaftlichen Augen angesehen? Einen Frauenkörper nicht nur bewundert, sondern richtiggehend begehrt? Hatte ich je das Verlangen, eine Frau zu küssen, zu berühren, zu lieben? Nicht nur wie bei Melly, das ist eher ein schwesterliches Gefühl.
Aber könnte ich jemals mit einer Frau...schlafen? Wie geht „das“ überhaupt? Kann man das denn eigentlich als Sex bezeichnen? Ich meine, Sex dient ja ursprünglich der Fortpflanzung und bei Frauen geht das ja schlecht, ohne Samen und so. Kann man das dann wirklich als solchen ansehen?
Ich brauche dringend Informationen. Und vor allem ein „Testobjekt“. Aber erstmal wäre ein wenig Ablenkung nicht schlecht.
Ich stehe auf, schnappe mir unseren Hund Dixie und gehe an meinen Lieblingsplatz, einen ganz bestimmten Baum an dem See, wo Tom und ich gestern auch waren. Ich liebe es, wie die Sonne das Wasser zum Glitzern bringt, dem Zwitschern der Vögel zu lauschen und den Frühlingsduft einzuatmen. Dixie liegt neben mir im grünen Gras, ich werfe Steinchen ins Wasser. Jedesmal wenn ich den Arm bewege, hebt sie ihren Kopf, sieht mich mit ihren treuen Hundeaugen an und legt den Kopf dann wieder auf ihre kleinen Pfötchen.
Ihre Nähe und dieser Platz beruhigen mich und meine chaotischen Gedanken ungemein.
Josi sagte, ihre Eltern hätten das gut aufgenommen – wie würden meine Eltern wohl reagieren? Würden sie es akzeptieren? Mich hassen? Oder gar – ich muss schlucken – verstoßen?
Ich sehe mich schon als armen Schlucker an der Straßenecke sitzen, auf einer schmutzigen, alten Decke, mit einer Dose klappernd und um Geld bettelnd, neben mir eine verlauste und von Flöhen befallene Dixie...
Nein, so weit darf es nicht kommen.
Niemand darf von meinem Gefühlsdurcheinander erfahren. Und vor allem darf ich nicht herausfinden, ob ich nun lesbisch bin oder nicht, dann wäre alles noch schwerer. Denn wenn man von etwas keine Ahnung hat, nicht weiß, wie es sich anfühlt, ist es leichter zu ertragen, als das Gefühl, etwas zu vermissen. Was man nicht kennt, kann einem auch nicht fehlen...
Eher sterbe ich unwissend, als von meiner eigenen Familie gehasst und verachtet zu werden.
Kurzentschlossen stehe ich auf, mit dem Vorhaben, nie wieder über lesbisch-sein oder nicht-sein nachzudenken, greife nach Dixies Leine und gehe nach Hause.

Doch schon wenige Wochen später werde ich wieder mit der Frage konfrontiert:
Ich treffe mich wieder mit Josi. Unser Plan war eigentlich, ein gemütliches Picknick an „meinem“ See zu machen, aber als ich mich am Nachmittag fertig mache, bekomme ich eine SMS mit dem Text: „Komm' in die Stadt, wir warten beim Springbrunnen auf dich!“. Ich bin verwundert über das „wir“, denke mir aber nichts weiter dabei und mache mich auf den Weg.

Als ich beim Springbrunnen ankomme, wartet da Josi mit einem großen, schlanken Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und einer Cap auf dem Kopf.
„Hey Josi!“, sage ich und umarme sie zur Begrüßung. „Na“, sie erwidert meine Umarmung herzlich und wendet sich dann dem jungen Mann zu. „Das ist Mica, meine Freundin.“ Ich stutze. Das ist ein Mädchen? Ich werde rot, nicke der Unbekannten zu. Oh Gott, hoffentlich merkt sie meine Unsicherheit nicht. „Was wollen wir machen?“, versuche ich, meine Schüchternheit zu vertuschen. „Ich weiß nicht – Eis essen?“, entgegnet Josi lächelnd. Ich zucke mit den Schultern „Meinetwegen.“
Wir gehen zum Eiscafé und setzen uns an einen Tisch. Schon einige Sekunden danach kommt eine Bedienung angerauscht und nimmt unsere Bestellung auf.
Als sie wieder weg ist, herrscht bedrückende Stille am Tisch. Keiner weiß, was er sagen soll, kaum aushaltbar. Kennt ihr diese Stille?
Irgendwann wird sie – Gott sei gesegnet – von Josi durchbrochen. „Und .. hat sich bei dir in der Liebe mittlerweile was ergeben?“ „In den paar Tagen?“, ich lache mehr oder weniger gezwungen, „nein und ich denke auch nicht, dass sich da in nächster Zeit was ergeben wird.“ „Warum nicht?“, fragt Josi und ihr Blick wirkt.. ja, wie soll ich das beschreiben? Als wüsste sie, worüber ich vor ein paar Wochen noch gegrübelt habe. Seit dem Spaziergang mit Dixie habe ich jeden weiteren Gedanken daran verdrängt, wollte nicht mehr darüber nachdenken und mich nicht noch mehr selbst verwirren. „Ähm .. ich bin halt im Moment nicht so auf eine Beziehung oder so aus..“, stottere ich und betrachte verlegen meine Hände unter dem Tisch. „Das war ich auch nicht und plötzlich stand Mica vor mir.“, lächelnd sieht Josi zu ihrer Freundin und greift nach ihrer Hand. „Da hat's einfach peng gemacht und ich konnte mich nicht mehr dagegen wehren. Ich weiß einfach, dass es richtig ist und das ist auch gut so!“ „Das ist schön.“, sage ich und ringe mir ebenfalls ein Lächeln ab.
Ich überlege, Mica zu fragen, wie sie festgestellt hat, dass sie auf Mädchen steht.. aber irgendetwas hält mich davon ab. Wäre es nicht zu direkt? Ich meine, ich kenne diese Frau erst seit ein paar Minuten und .. ich verwerfe den Gedanken. Viel zu früh, ich will ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.
Nach dem Eisessen und einigen unverfänglichen Gesprächen über Schule, Mitschüler und bescheuerte Lehrer beschließen wir, uns noch in den Biergarten zu setzen, weil das schöne Wetter geradezu dazu einlädt.
Ich genieße, wie das kühle Bier meine Kehle herunterläuft.
Der Abend verläuft angenehm, wir trinken viel – sehr viel – Bier und irgendwann kommen wir wieder auf Homosexualität zu sprechen. Und dann, ich weiß nicht, ob es an dem ganzen Alkohol lag, der mich so frei und offen gemacht hat oder einfach, weil ich Mica nun ein paar Stunden kannte und sie mochte, fragte ich Mica, wie sie gemerkt hat, dass sie auf Frauen steht.
„Nunja, das ist eine gute Frage. Ich habe mir bis ich 16 war, nie darüber Gedanken gemacht, ob ich nun homo oder hetero bin. Eigentlich war ich immer der Meinung, „normal“ zu sein. Allerdings hatte ich nie Schmetterlinge im Bauch oder so .. diese ganzen Sachen, von denen alle immer reden, wenn man verliebt ist. Und irgendwann fing es dann an, dass ich mich fragte, warum ich das alles nie fühlte, ich hatte schon Angst gestört zu sein“, sie lacht, „aber dann hab ich recherchiert, im Internet und auf einer Website war die Rede von Homosexualität. Ich überlegte also, ob ich nicht vielleicht lesbisch bin, meldete mich in 'nem Forum an, chattete, lernte Lesben kennen und ging schließlich sogar auf eine Lesben-Party. Und da merkte ich, dass ich es bin. Seitdem fühle ich mich gut und wohl und habe nicht mehr das Gefühl, dass etwas falsch oder komisch ist. Ich weiß jetzt, was und wer ich bin und das ist gut so!“ Ich staune. Sie hatte dieselben Gefühle wie ich im Moment auch. Und da platzt der Knoten: „Genauso fühle ich mich auch im Moment.“ Ich beginne zu reden und zu reden, stelle Fragen, die sie mir auch beantworten, rede weiter und weiter, bis ich das Gefühl habe, alles losgeworden zu sein.
Ich fühle mich .. besser, wohler.
Verstanden.

Seitdem verbringe ich viel Zeit mit Josi und Mica. Sie geben mir Halt, bei ihnen fühle ich mich wohl und sicher. Leider leidet die Freundschaft mit Melly ziemlich darunter. Doch mit ihr kann ich nicht darüber sprechen. Sie würde mich ja doch nicht verstehen ..

„Halloohoo!“, strahlend kommt Melly auf mich zugelaufen. „Hey ..“, murmle ich und packe weiter meine Deutschsachen aus. „Was ist denn mit dir los?“, fragt sie sorgenvoll. Ich erschrecke. „N..nichts“, stottere ich schnell. „Was soll los sein?!“. „Ich weiß es nicht, deswegen frag' ich doch .. du bist so komisch in letzter Zeit, wir haben ewig nichts gemacht und .. ich weiß nicht, du siehst immer so niedergeschlagen aus.“, sagt Melly und blickt mich mit ihren Strahleaugen an. Mir bricht es beinah das Herz, sie so zu sehen. Aber ich kann nicht mit ihr reden, es geht einfach nicht .. „Es ist alles ok, wirklich!“, versichere ich deshalb. Gott sei Dank kommt unsere Lehrerin gerade zur Tür herein. Bei Melly's Standhaftigkeit hätte es sonst nicht mehr lange gedauert, bis ich nachgegeben hätte ...





copyright © by Laurali. By publishing this on lesarion the author assures that this is her own work.



comments


Chapeau! Sehr gut geshrieben und sicher für manche hilfreich
femmedyke - 16.02.2018 20:42
Danke für die Geschichte!
milly2000 - 22.01.2017 11:27
ein Mädchen mit vielen Fragen
angiescholz - 02.02.2015 02:23
Wow
Ich bin begeistert von der Storry.
Es ist echt beeindruckend, wie ich mich selber im ersten teil deiner Geschichte wieder gespiegelt habe.
Ich schreibe in einem Jahr mein Abi, und meine Gefühlswelt ist ähnlich gelaufen.
Ich bin begeistert von deinem Schreibstil, und ich wünschte, ich könnte genau so schreiben.
Sagen wir so, ich habe Mittlerweile mit dem Inneren Comming Out abgeschlossen, und kann mich zu 100% auf mein Abi konzentrieren. Nagut, das Thema Eltern und Outing ist bei mir auch noch ein Thema, aber ich denke das kann ich noch etwas aufschieben.
Als ich mich am Ende der 12. Klasse so ganz ganz langsam bei meine Klassenkameraden und Freunden Geoutet habe, mit den Worten: "Ich habe ein Date. Und es heißt...(irgend ein weiblichen Vornamen bitte eingeben)". Waren alle offen und haben sich tierisch gereut für mich, als sie gesehen haben, das ich nach einem langen Down wieder strahlen konnte.
Also um nochmal auf die Storry ein zu gehen, ich denke sie muss nicht so Enden. Und ich bin immer noch richtig baff, wie ich mich im ersten Teil der Geschichte zu 100% wieder erkannt habe.
Danke. Mach Weiter so.
vanessa2408 - 06.08.2013 22:42
Gute Story
Libellenlady93 - 24.01.2013 14:08

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