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Eileen und Nele Teil 2

von Gelireth


7
Es dämmert bereits, als ich, leicht schwindlig vom Alkohol und noch erhitzt vom Tanzen, daheim ankomme und ins Bett falle.
Nadine hatte mir noch zum Gürtel passende High Heels mitgebracht und sich an meinem Gesicht verkünstelt. Nach zwei Gläsern Wein hatten wir ausgelassen die Tanzfläche gestürmt und Nadine hatte sich, entgegen ihrer Gewohnheit, von niemandem anflirten oder entführen lassen. Sie war ganz für uns da und wir hatten unsere Dreisamkeit genossen – ganz wie in alten Zeiten.
Meine Füße schmerzen, doch ich fühle mich gelöst und entspannt. Erleichtert darüber, endlich aus diesen Schuhen rausgekommen zu sein, strecke ich die Beine aus und kuschle mich in mein Kissen. Mir fällt ein, dass ich noch Make-Up trage, doch ich bin zu faul, um nochmal aufzustehen.
Ich liege auf dem Rücken und lasse den Abend in Gedanken noch einmal passieren. Emma machte mir ein Kompliment zu meinem Dekolleté und ich lege lächelnd die Hände auf meine Brüste.
Ich bin erregt und verspüre große Lust, mich zu berühren. Das letzte Mal liegt schon eine Weile zurück. Es fällt mir meist sehr schwer, mich zu entspannen, da mich dabei oftmals ein schlechtes Gewissen heimsucht. Natürlich ist mir klar, dass es völlig normal ist, sich gelegentlich selbst Befriedigung zu verschaffen, dennoch versinke ich vor Scham im Boden bei dem Gedanken, dass man es mir vielleicht ansieht oder auch nur ahnt.
Ich lasse mich fallen und lasse meine Finger in meinen Schoß wandern. Mein Atem geht rascher, als ich mich streichle.
Plötzlich sehe ich Eileens schlanke Finger vor mir, wie sie meine Hand auf dem Keyboard führt. Wie sie warm auf meinen liegen und wie sie riecht. Nach Zigaretten und Zitronenmelisse. Ich denke daran, wie nah sie mir war und wie sich ihre Brüste unter dem Shirt abzeichneten. Ich sehe sie vor mir, wie sie da steht, in ihrer engen Jeans und den Händen in den Taschen. Ihre Hüften. Ihr Schritt.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und ziehe meine Hand aus dem Schoß zurück. Ich starre an die dunkle Decke über mir. Die plötzliche Erkenntnis, wie erregt ich bei dem Gedanken an sie bin, lässt etwas in mir zu Eis gefrieren.
Mit der Entspannung ist es vorbei.
„Nein.“ flüstere ich entschlossen in die Dunkelheit. „Wage es ja nicht, hörst du!“
Es ist schon hell, als ich in einen unruhigen, kurzen Schlaf falle.
Ein paar Stunden später bin ich bereits wieder hellwach. Seufzend stehe ich auf, um meinen Eltern beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.
„Na? Leicht übernächtigt?“ fragt Papa mit einem fröhlichen Zwinkern. Ich nicke nur und schenke mir Kaffee ein. Lustlos kaue ich auf einem Butterbrot. „Wie war’s denn?“ will Mama wissen. „Toll.“ murmle ich. Mama sieht skeptisch aus. „Klingt aber nicht so.“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Ich bin nur müde, Mama. Wir hatten wirklich viel Spaß.“
Daniel kommt dazu. Er ist frisch rasiert und duftet nach After-Shave. Er ist so ein Frühaufsteher und dabei immer ekelhaft gut gelaunt. Er grinst in die Runde und schmiert so kräftig Nutella auf sein Brötchen, dass mir vom Anblick schlecht wird. „Muss das sein?“ brummle ich missmutig. Er zuckt mit den Schultern. „Zuviel gefeiert, was?“ Er nimmt einen provozierend großen Bissen. „Ich fahr gleich ins Tierheim.“ sagt er mit vollem Mund. „Soll ich Eileen von dir grüßen?“ In seinem Gesichtsausdruck ist etwas Lauerndes. Eileen. Schon wieder ist sie da. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ murmele ich möglichst gleichgültig.
„Ach ja.“ fällt Mama mit ein. „Wie läuft denn die Mathenachhilfe?“
Am liebsten würde ich aufstehen und schreien. Doch das wäre nicht gerade unauffällig.
„Gut.“ sage ich nur.
„Wann ist die Klausur?“
„Morgen.“
Morgen schon. Meine Mathesachen. Mist, die hab ich bei Eileen vergessen.
Ich verspüre den starken Drang, mir selbst eine Ohrfeige zu verpassen.
Meine Lieben merken wohl, dass ich nicht zu Gesprächen aufgelegt bin und lassen mich in Ruhe. Daniel verzieht sich und Papa verwickelt Mama in eine Diskussion über einen neuen, aber teuren Elektrorasenmäher.
Ich beende mein Frühstück und schlurfe ins Bad. Der Blick in den Spiegel ist nicht gerade aufbauend. Meine Wimperntusche und der Eyeliner sind stark verschmiert und ich habe tiefe Ringe unter den Augen. Ich lasse mir Badewasser ein und kippe ordentlich Badeöl dazu, damit es richtig schäumt. Der Geruch steigt mir in die Nase.
Zitronenmelisse.
Na toll.
Da ich keine Umweltsünderin sein will, nehme ich trotzdem dieses Bad. Ich sinke in den tiefen Schaum und komme erst aus der Wanne, als er fast verschwunden und das Wasser abgekühlt ist.
Immer noch müde, aber wenigstens sauber und erfrischt, telefoniere ich erst mal mit Emma und Nadine in Konferenzschaltung. Nadine ist schlimm verkatert und liegt mit Kopfschmerzen im Bett. „Leute“, wimmert sie. „wieso habt ihr mich nur dieses Kirschlikörzeugs trinken lassen? Ihr wisst, dass mir das nicht bekommt.“ Emma lacht fröhlich in unsere empfindlichen Ohren. „Selber schuld! Du wolltest ja unbedingt.“
Nadine legt bald auf, um nochmal ein bisschen zu schlafen und ich tue es ihr gleich. Ich verschlafe fast den gesamten Nachmittag, doch Mama schmeißt mich irgendwann wieder raus. „Schlaf lieber heute Abend wieder und gucke ein bisschen in deine Mathesachen. Du willst doch immer noch den Workshop machen, oder?“ Ich stöhne, stehe aber auf. Um sie zufrieden zu stellen, setze ich mich an den Schreibtisch und hole ein paar Notizen hervor. Sobald sie aus dem Zimmer geht, lasse ich den Stift wieder fallen.
Es klopft. „Nele?“ Es ist Daniel. „Ich mach Mathe.“ motze ich. „Also verzieh dich.“ „Ohne dein Mathebuch?“
Ich fahre herum. Eileen steht da und grinst. „Du hast deinen Rucksack gestern bei mir liegen lassen.“
Daniels Grinsen gefällt mir ganz und gar nicht. Er schlüpft aus dem Zimmer.
Ich stehe auf und schlucke. Ich nehme den Rucksack mit trockenem Mund entgegen. Etwas fahrig versuche ich meine Haare zu ordnen. Beschämt stehe ich vor ihr in meinen pinken Jogginghosen und dem überweiten T-Shirt. Es war heiß draußen und Eileen trägt entsprechend Shorts und ein Tanktop. Ich schlucke erneut, bringe kein Wort heraus. Eileen streckt ihre Hand aus und streicht mir eine Haarsträhne über die Schulter nach hinten. „Lange Nacht, was?“
Ich laufe knallrot an, denn ich muss an letzte Nacht denken.
„Danke.“ krächze ich schließlich und hebe den Rucksack leicht an. „Kein Problem.“ Sie mustert mich strahlend von Kopf bis Fuß. „Dein Kater-Look gefällt mir.“ Ich laufe rot an. „Den kriegt normalerweise niemand zu sehen.“ erkläre ich. Das mit dem Reden klappt nun schon besser. Mein Herz klopft so laut, dass ich befürchte, sie könnte es hören.
„Schade.“ Sie grinst. Eindeutig anzüglich. , Schluss jetzt! ` ermahne ich mich selbst und zwinge mich zur Ruhe. „Ich bin gleich wieder da.“ Ich flüchte ins Badezimmer, stütze mich auf dem Waschbecken ab und atme tief durch. „Was ist los mit dir?“ frage ich mein Spiegelbild. „Sie ist nur ein Mädchen, das du aus der Schule kennst.“
Ein ziemlich faszinierendes Mädchen, das in mir die konfusesten Gefühle hervorruft.
Ich kühle mein glühendes Gesicht mit ein bisschen Wasser und verscheuche die Gedanken an die letzte Nacht. Schnell bürste ich mir noch durch meine Haare, die sich leicht wellen, weil sie noch feucht gewesen waren, als ich mich für das Nickerchen hingelegt hatte. Mein Blick bleibt bei meiner Kulturtasche mit dem Make-Up hängen, doch nach kurzem Zögern lasse ich es bleiben.
Ich will sie nicht beeindrucken. Ich muss sie nicht beeindrucken. Es wäre ja komisch, wenn ich mich für sie in Schale werfen würde. Sonst denkt Eileen vielleicht noch, dass ich…
Ich wage nicht den Gedanken zu Ende zu denken. Ist schließlich Blödsinn. Totaler Unsinn.
Als ich in mein Zimmer zurück gehe, droht meine neue Selbstbeherrschung wieder in sich zusammen zu fallen.
Eileen steht vor meiner Pinnwand und mustert die Fotos. Natürlich hat sie die beiden Bilder vom Fußballturnier längst entdeckt. Sie hat meine Rückkehr bemerkt und dreht sich lächelnd um. „Du hast wirklich Talent. Deine Bilder sind alle sehr schön.“ Sie deutet auf ein Schwarz-weiß-Bild von Emma, wie sie auf einer Parkbank sitzt, den einen Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt, auf den Knien einen Block balancierend und schreibend, während sie mit dem Ende ihres langen Zopfes spielt. „Das hier gefällt mir besonders.“
Ich bin froh, dass sie die beiden anderen Bilder nicht erwähnt und setze mich auf der gegenüberliegenden Seite von Eileen aufs Bett. „Das war letzten Herbst. Da hatte ich gerade meine Nikon bekommen.“
Sie nickt und deutet auf ein paar andere Bilder. „Ja, man sieht den Unterschied zur Spiegelreflex. Diese hier hast du mit einer einfachen Digitalkamera gemacht.“ Ich bewundere ihre gute Beobachtungsgabe und eine Weile betrachten wir schweigend die Pinnwand.
„Auch auf die Gefahr hin, dass du jetzt sauer wirst“, sagt sie schließlich. „würde ich jetzt doch gerne wissen, wie du und Emma mit Nadine befreundet sein könnt. Ihr seid doch gar nicht so oberflächlich wie sie.“
Ich spüre einen Anflug von Ärger, doch ich schlucke ihn herunter. „Nadine ist nicht so.“
Eileen zuckt mit den Schultern. „Das sagtest du schon. Erklär es mir.“
Ich nehme ein Bild von Nadine und mir von der Pinnwand. Eileen setzt sich neben mich auf das Bett. „Sie ist so hübsch und so beliebt. Das war sie schon immer.“ beginne ich nachdenklich.
„Das bist du auch.“ Eileen runzelt die Stirn.
Ich schneide eine zweifelnde Grimasse. „Willst du es hören oder nicht?“
„Ok.“ Sie streift ihre Schuhe ab und macht es sich mir gegenüber im Schneidersitz bequem.
Sie hat wieder diese geduldige Miene und mustert mich, während ich erzähle.
„Wir kennen uns seit der fünften Klasse. Sie war von Anfang an der Superstar in der Klasse, während ich mich schüchtern hinter Sprachbüchern und der Kamera versteckt habe. Es fiel mir schwer, Kontakte aufzubauen. Erst als ich begann, an der Schülerzeitung mitzuarbeiten, habe ich mit Emma eine echte Freundschaft begonnen.“ Ich deute auf das Schwarz-Weiß-Bild und lächle bei der Erinnerung. „So hab ich sie auch kennen gelernt. Nadine hat mich ziemlich ignoriert.“ fahre ich schulterzuckend fort. „Sie war Klassensprecherin und sehr engagiert in Schülerkomitees. Es war Zufall, dass sie auf meine Fotos aufmerksam wurde.“ Ich deute auf ein Foto in einer Ecke. Nadine posiert in einem hübschen Kleid mit ihren Schuhen in der Hand. „Das hier habe ich auf einer Schulparty geschossen. Es war in der Schülerzeitung und sie kam strahlend zu mir, nachdem es veröffentlicht wurde. Sie wollte noch mehr Fotos von sich machen lassen und naja“, ich streiche das Bild in meiner Hand glatt. „der Rest ist Geschichte. Sie hat mich erfunden.“ Eileen runzelt die Stirn. „Erfunden? Wie kann man eine reale Person erfinden?“ Ich zucke mit den Schultern. „Sie hat mir den Aufstieg ermöglicht.“ Eileen schüttelt den Kopf und die Falte in ihrer Stirn wird tiefer. „Das ist doch Blödsinn.“ Ein wenig heftig pinne ich Nadines Foto wieder an die Korkplatte zwischen all die anderen. „Nein, ist es nicht. Ich war ein niemand. Man hat mich erst bemerkt, als sie mich quasi an die Hand genommen hat. Sie nahm mich auf jede Party mit, ging mit mir Shoppen und zeigte mir Make-Up…naja alles eben, was es braucht, um beliebt zu sein.“
Eileens Ausdruck wird immer ungläubiger. „Nele, das glaubst du doch nicht im Ernst?! Hörst du dich eigentlich manchmal selbst reden?“
Ich werde nun doch wütend und stehe auf. „Ohne Nadine wäre ich immer noch eine Außenseiterin. Wer will das schon?“
Sie zuckt zusammen und ich bereue meine Worte sofort. Sie steht zornig auf. „Ich bin lieber ich selbst und stehe am Rande der Gesellschaft, als mich auf ein Modepüppchen reduzieren zu lassen, nur damit man mich toleriert.“ Wir starren uns mit blitzenden Augen über das Bett hinweg an. Dann wird ihre Miene plötzlich weich und auch meine Wut verraucht. „Du bietest doch so viel mehr, Nele.“ sagt Eileen sanft. Sie deutet auf die Pinnwand und auf Emmas Foto. „Das hier zum Beispiel. Du bist in der Lage, den Menschen zu sehen, ihn zu erkennen. Wieso traust du dich nicht, dich selbst zu sehen?“ Ihre Stimme wird immer leiser. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Eileen seufzt resigniert und wendet sich zur Tür. „Ich sollte gehen.“
Ich will sie abhalten, doch ich bekomme den Mund nicht auf. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Eingeständnis, dass sie recht hat, und der Loyalität zu Nadine. Und zwischen all dem wird mir klar, wie wichtig mir Eileens Meinung ist. Dass ich möchte, dass sie mich mag. Wie sehr ich sie mag.
Sie dreht sich noch einmal um und blickt auf die Fotos von ihr. „Das ist doch eine Dokumentation von Freundschaft. Diese sind doch irgendwie fehl am Platz, oder?“
Endlich kann ich mich aus meiner Starre lösen und bewege mich auf sie zu. „Nein, sind sie nicht.“ sage ich klar. Ich nehme ihre Hand. „Du gehörst da hin. Du bist mir wichtig.“ Meine Stimme ist plötzlich kaum noch ein Flüstern, als ich auch ihre andere Hand nehme. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich merke, wie nahe wir uns sind. Vorsichtig erwidert sie den Druck. „Sind wir denn….Freunde?“ flüstert sie zurück und kommt noch ein wenig näher. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen und starre auf unsere Hände.
Mein Innerstes ist in Aufruhr. Mir ist heiß und kalt zugleich. Mein Mund ist trocken und mein Puls rast. Ich spüre die Wärme ihrer Hände und nun die ihrer Stirn an meiner.
„Ich weiß es nicht.“ antworte ich kaum hörbar. Ich kann nicht mehr denken, alles dreht sich. Gemeinsam sehen wir zu, wie sich unsere Finger auf Augenhöhe angehoben vorsichtig und langsam ineinander verhaken. Ich bewundere, wie gut sie sich zusammenfügen, wie gut und warm es sich anfühlt. Ich spüre Eileens Atem an meinen Lippen und meine Knie drohen unter mir nachzugeben.
Ein lautes Klopfen lässt uns auseinander fahren. „Nele? – Oh, Scheiße!“
Ich hatte die Tür nicht ganz zugemacht und Daniel ist in seiner typischen Eile beinahe hereingefallen. Er starrt uns eine Sekunde an – dann grinst er verlegen. „Sorry, wollte nicht stören.“
Ich stehe im sicheren Abstand zu Eileen. Ich bin erschrocken. Über mich selbst und über Daniels plötzliches Auftauchen. Mein Gesicht glüht.
„Du störst nicht.“ stelle ich klar und ignoriere Eileens Seitenblick.
„Mama sagt, es gibt Essen.“ sagt Daniel dann langsam und sieht von mir zu Eileen und zurück. „Sie lässt fragen, ob du bleibst.“
Eileen wirft mir noch einen Blick zu und schüttelt dann den Kopf. „Nein, deine Mutter wirkte nicht so, als hätte sie mich gerne länger da als nötig.“
Daniel zuckt mit den Schultern. „Das ist doch ihr Problem.“ Eileen lächelt. „Schon gut, ich muss wirklich los.“ Sie wendet sich mit einem hilflosen Lächeln an mich. „Bis dann.“ sagt sie.
Ich bringe kein Wort heraus und nicke schließlich nur. Sie dreht sich um und geht aus der Tür. Daniel sieht ihr hinterher, dann zu mir. Mir gefällt sein Blick nicht, denn ich habe das Gefühl, dass er Schlüsse zieht, die ich nicht bereit bin, für mich selbst zu ziehen. Ich höre, wie die Haustür zugeht. Dann setze ich mich selbst in Bewegung und laufe an Daniel vorbei. „Du hast nicht gestört.“ mache ich ihm noch einmal deutlich. Daniel hebt in einer abwehrenden Geste die Hände. „Schon gut.“ sagt er sanft. Auf dem Weg nach unten spüre ich seinen Blick im Rücken.
8
Als ich am Montagmorgen erwache – lange vor dem Wecker – gilt erst mein zweiter Gedanke der anstehenden Klausur. Mir ist flau im Magen, obwohl mir Prüfungsangst normalerweise fremd ist.
Auch als ich zwei Stunden später das Klassenzimmer betrete, ist mir noch immer schlecht. Ich halte meinen Blick am Boden und möchte niemanden ansehen.
Ich möchte sie nicht ansehen. Ich will mich nicht durcheinanderbringen lassen. Und ich weiß, dass sie wieder totales Gefühlschaos in mir auslösen wird und das kann ich so kurz vor der Klausur nicht brauchen. Ich sehe nicht auf, als Nadine und Emma mich begrüßen und mir viel Glück wünschen.
Trotzdem bemerke ich ihre Ankunft. Natürlich. Zigaretten und Zitronenmelisse rauschen an mir vorüber. „Viel Erfolg!“ sagt Eileen leise und streicht mir im Vorbeigehen über den Arm. Ich murmle etwas Unverständliches zurück, dann knallt die Tür zu. „Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich hoffe, Sie sind alle vorbereitet.“ Humbolt beginnt, die Aufgabenblätter auszuteilen.
„Frau Duchs?“ Er steht plötzlich genau vor mir und sehe nun doch auf. „Geht es Ihnen gut?“ fragte er besorgt. „Sie sehen ein wenig elend aus.“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und schüttle den Kopf. „Nein, alles in Ordnung. Nur ein bisschen nervös.“ Humbolt strahlt und geht weiter.
Es kehrt konzentrierte Ruhe ein, doch meinen Gedanken fällt es schwer, diese Ruhe einzuhalten. Ständig denke ich daran, dass Eileen hinter mir sitzt. Wie sich unsere Hände berührt haben. An diesen intensiven Moment zwischen uns, bei dem uns mein Bruder so reingeplatzt war.
Ich verpasse mir in Gedanken eine Ohrfeige. Er ist nirgends reingeplatzt, sage ich mir. Da war nichts.
Ich lese mir die Aufgaben durch und beginne mit der Lösung. Es ist anspruchsvoll, aber ich erkenne die Vorgehensweise wieder. Wie bei den Übungsaufgaben gehe ich Schritt für Schritt vor und komme gut voran.
Als ich bei der vorletzten Aufgabe sitze, geht Eileen an mir vorbei. Sie ist schon fertig. Sie gibt ihren Aufgabenzettel ab und dreht sich beim Hinausgehen kurz zu mir um, um mir aufmunternd zuzuzwinkern.
Ich wende mich wieder dem Blatt vor mir zu, doch ihr Zwinkern hat gereicht, um mich aus der Bahn zu werfen. Einige Minuten später ist Emma auch fertig und verlässt den Raum.
Ich schreibe, streiche durch, versuche es erneut. Mein Kopf ist plötzlich wie leer gefegt. Meine Lösung ergibt keinen Sinn und ich entdecke leichtsinnige Rechenfehler, doch dann klingelt es und es ist zu spät, um noch etwas zu ändern.
Mit einem Seufzen gebe ich mein Lösungsblatt ab und höre mir Nadines Nöte an. „Puh, hoffentlich bestehe ich das.“ plappert sie. „Es ist eh schon so knapp. Wenn ich diese jetzt versaut habe, dann wird’s ernst.“ Ich nicke nur.
„Ich hole mir einen Kaffee aus dem Automaten. Magst du auch?“ Ich nicke wieder und Nadine verschwindet in die Cafeteria. Ich gehe zu meinem Schließfach, um ein paar Bücher zu holen, als ich sie sehe.
Emma und Eileen, wie sie zusammen bei den Spinden stehen, lachen und reden. Es sieht vertraut aus. Emma zeigt Eileen etwas in ihrem Block und Eileen sagt etwas, was Emma losprusten lässt. Emma nimmt Eileens Arm und hakt sich locker bei ihr unter, während sie ihr eine weitere Seite unter die Nase hält.
Ich kann nicht leiden, dass sie so nah beieinander stehen. Dass Emma Eileens Arm berührt. Dass sie miteinander lachen und die verwunderten Blicke vollkommen ignorieren.
Ich spüre einen tiefen Stich irgendwo in meinem Inneren. Mit einer Mischung von leichter Verärgerung und Beleidigung stelle ich mich zu ihnen. „Was ist denn so lustig?“ will ich wissen. „Hey!“ strahlt Emma. „Ich habe Eileen nur eine Kurzgeschichte lesen lassen, die ich gestern geschrieben habe.“
Eileen nickt. „Die ist gut, richtig witzig.“
„Schön.“ sage ich. Emma sieht etwas verwundert aus. „Magst du sie auch lesen?“ „Klar.“ sage ich.
„Okay“, sagt Emma lang gedehnt. „offenbar ist die Klausur nicht sonderlich gut gelaufen, oder?“
Ich zucke mit dem Schultern. „Passt schon.“ Ich bin etwas grantig, dass sich Eileen mehr für Emmas dämliche Geschichte interessiert als für mein Ergebnis in der Klausur.
„Bei euch lief wohl alles gut – so wie ihr hier rumgackert!“
Emma wird auch grantig und packt ihren Block weg. „Was ist denn los mit dir?“ „Gar nichts!“ schnappe ich zurück. Emma schüttelt den Kopf und geht. Eileen nimmt mich bei den Schultern. „Hey“, sagt sie sanft. „So schlecht gelaufen?“ Meine Laune wird schlagartig besser, als sie mich besorgt mustert. Ich schüttle den Kopf. „Es war ganz in Ordnung. Ich hoffe nur, es reicht für eine zwei.“ Eileen strahlt. „Du und Emma…ihr versteht euch ganz gut, was?“ frage ich so beiläufig wie möglich.
Eileen nickt unbeschwert. „Emma ist richtig cool und sehr offen. Ich mag sie sehr.“
Da ist es wieder. Dieses fiese Stechen. Ich sollte mich darüber freuen, dass sie Emma gut leiden kann, doch gleichzeitig nagt etwas an mir. Ich versuche das Gefühl zu verscheuchen, aber es gelingt mir nicht ganz.
„Du magst Emma?“
Sie nimmt ihre Hände weg und sieht etwas verwundert aus. „Ja“, gibt Eileen zu. „Sie scheint ohne Vorurteile auf andere Menschen zuzugehen und lässt sich nicht von der Oberfläche beeinflussen. Emma ist sanft und freundlich. Sie begegnet allen Leuten immer mit Respekt und herzlicher Ehrlichkeit, nicht so wie...“
Dieser Lobgesang hätte von mir sein können. Doch plötzlich bin ich zornig und gleichzeitig verwirrt, weil ich nicht weiß, worauf und falle ihr ins Wort. „Du meinst, nicht so wie ich?“ versuche ich es scharf.
Sie mustert mich verwirrt. „Das ist doch Unsinn, Nele.“ sagt sie dann bestimmt. „Ich wollte sagen, ,wie Nadine‘. Warum bist du denn so empfindlich?“
Auch sie scheint ein wenig verärgert zu sein.
„Zieh nicht schon wieder über Nadine her!“
Eileen verschränkt grimmig die Arme vor der Brust.
„Du bist ja so blind vor Loyalität, dass einem schlecht werden kann. Ich blicke bei dir einfach nicht durch.“ Sie lässt die Arme sinken und sieht nicht mehr wütend aus, sondern ein bisschen verzweifelt. „In einem Augenblick habe ich das Gefühl, dass du wirklich bei mir bist – unverfälscht, eine wundervolle, kreative, intelligente Frau – und im nächsten Augenblick sehe ich Nadine vor mir.“
Mein Zorn verschwindet und wird durch etwas ersetzt, was ich nicht einordnen kann. Ich weiß nicht, auf welche Aussage ich eingehen soll. Aber sie hat mir den Wind aus den Segeln genommen.
„Wovon redest du?“ will ich wissen.
„Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, es sind Nadines Worte, die du benutzt, nicht deine eigenen. Ihre Ansichten und auch leider einige ihrer Verhaltensweisen. Du hältst dich an ihre Regeln.“ Schon wieder ein Angriff auf Nadine. Und auch auf mich.
„Was ist so schlimm daran, beliebt sein zu wollen?“ Ich werde lauter.
In mir herrscht das reinste Chaos. Ich bin aufgewühlt und komplett durcheinander. Ich bin zornig, eingeschnappt, frustriert und ein wenig sehnsüchtig. Alles auf einmal in einer ständig wechselnden Reihenfolge.
„Gar nichts!“ erwidert Eileen heftig. „Aber meinst du nicht, die Leute sollten dich um deinetwillen mögen anstatt wegen der Maske, die dir Nadine verpasst hat?“
„Was weißt du denn schon? Du kennst sie doch gar nicht!“
Eileen schüttelt den Kopf und sie bebt nun vor Zorn. „Siehst du nicht, was sie tut? Sie ist da – schon wieder – ständig! Sie ist überall.“
„Ja und? Sie ist meine beste Freundin!“ verteidige ich mich. Und Nadine.
Eileens Augen blitzen. „Und wo bist du? Du versuchst so sehr, genauso zu sein, wie alle dich haben wollen.“ Ihre Stimme wird leiser und ich merke, dass man beginnt, unsere Szene zu beobachten. „Du bist so darauf fixiert, es allen recht zu machen und dich anzupassen, dass du es doch selber nicht mehr weißt.“
„Ach, und du schon?“ erwidere ich spitz.
Eileen atmet tief durch. „Ich würde es gerne herausfinden, aber du lässt das nicht zu. Jedes Mal, wenn wir uns auch nur ein bisschen näher kommen, machst du einen erschrockenen Rückzug.“ Sie breitet hilflos die Arme aus. „Jedes Mal, wenn ich die echte Nele vor mir habe, sehe ich, was sie sein könnte, wie sie sein könnte, doch im nächsten Moment verkriecht sie sich wieder hinter der gesprungenen Eierschale, die Nadine für sie geschaffen hat. Du hast solche Angst, herauszufinden, was wirklich in dir stecken könnte, dass du verlernt hast, wenigstens dir selbst gegenüber ehrlich zu sein!“
Sie lässt die Arme fallen und lehnt den Kopf erschöpft an die Schließfächer in ihrem Rücken. Ich bin unbeweglich und weiß wieder einmal keine Antwort. Sie stößt sich ab, kommt auf mich zu und nimmt meine Hände in ihre, so wie ich es am Vorabend getan hatte. „Hör auf, dir vorschreiben zu lassen, wie du zu sein hast, was du wirklich willst….oder wen.“ Sie flüstert die letzten beiden Worte und sieht mir in die Augen. Ich schlucke und mir wird bewusst, dass obwohl es schon zur nächsten Stunde geklingelt hat, doch noch einige Schüler im Flur herumhängen und sich in ihren Gesprächen immer wieder uns zuwenden. Und die Frage, die sie mir stellt. Die ich mir im Grunde auch schon immer wieder gestellt habe, wenn auch unbewusst.
„Ich bin nicht lesbisch.“ wispere ich. Mehr zu mir selbst, als ich das Chaos in meinem Inneren zu einem Bild zusammensetze. Es hält nur eine Sekunde, dann bricht es in sich zusammen. Ich kann es einfach nicht zulassen.
Eileen drückt meine Hände. „Das behauptet auch niemand.“ flüstert sie zurück. „Aber zwischen uns…da ist doch was.“ Sie sieht mich an mit ihren schönen, klaren Augen und ich spüre, wie gut sich ihre Finger an meinen anfühlen.
„Was geht denn hier vor?“ Nadine und Emma tauchen neben mir auf. Eileen lässt mich nicht aus den Augen. „Nele, bitte.“
Ich weiß, dass ich mich entscheiden muss. Eileen kennt meinen Entschluss, bevor ich es ausspreche. „Tu es nicht.“ sagt sie beinahe flehend, doch ich schüttle ihre Hände ab. „Da ist nichts.“ sage ich laut. „Gar nichts. Und ich bin nicht lesbisch.“ Eileen weicht zurück und sieht aus, als hätte ich sie geschlagen. „Du kennst mich nicht, nur weil du mir in Mathe geholfen hast.“ fahre ich fort. „Also lass mich in Frieden.“
Eileens Züge werden hart. „Von mir aus. Mach, was du willst – oder besser noch: was sie will! Das ist doch das Gleiche, oder?“ sagt sie kühl. „Prinzessin!“ fügt sie mit kaltem Blick hinzu.
„Es geht dich rein gar nichts an. Hast du nicht gehört? Du sollst sie in Ruhe lassen!“ mischt sich Nadine ein.
„Ich gehe dich nichts an.“ betone ich laut. „Freak!“
Emma sieht von einem zum anderen und versteht die Welt nicht mehr. Eileen nimmt ihre Tasche und flieht. „Also, was war denn jetzt los?“ will Nadine wissen. „Hat sie sich in dich verknallt und wollte dir an die Wäsche? Na, der werde ich was erzählen!“
Ich nehme Nadine beim Arm. „Lass gut sein.“ murmle ich. Ich fühle mich elend und leer. Als ob ein großer Teil von mir herausgerissen worden wäre.
Ich habe ihn mir selbst herausgerissen. Ein großer Kloß steigt in meiner Kehle auf, doch ich schlucke ihn herunter. Vor Nadine will ich nicht weinen. Nicht um Eileen.
Emma sieht wütend und fassungslos aus. Im Gegensatz zu Nadine weiß ich, dass das nicht Eileen gilt. „Ich erkenne dich gar nicht wieder.“ sagt sie mir unhörbar für Nadine. Ihre Wut und ihre Enttäuschung treffen mich tief, obwohl sie kaum heftiger sein können als meine eigenen Schuldgefühle und Selbsthass.
Weil Eileen von einer Sekunden zur nächsten aus meinem Leben verschwunden ist und ich gerade erst erkannt habe, welche große Rolle sie darin plötzlich spielt.
Es erscheint mir noch immer völlig abwegig, doch das zusammengesetzte Puzzle aus meinem Gefühlschaos lässt sich nun nicht mehr auseinander nehmen. Die Ränder sind fest in einander verschmolzen und ich kann mich nicht mehr länger weigern, hinzusehen.
Ich habe mich verliebt. Hals über Kopf.
In ein Mädchen.
In Eileen, die ich gerade vor versammelter Mannschaft aus Feigheit gedemütigt und zurückgewiesen habe.
Ich will nur noch nach Hause, mich in mein Bett verkriechen und für immer heulen.
9
Ich flüchte mich nach Hause und schreibe mich den Rest der Woche selbst krank. Als volljährige Oberstufenschülerin zum Glück kein Problem. Es ist nicht schwer, meinen Eltern eine schlimme Erkältung vorzutäuschen, denn meine Augen und meine Nase sind vom vielen Heulen gerötet. Nach der Arbeit sehen sie ab und zu nach mir, bringen mir eine Suppe oder ein Buch aus der Stadtbücherei, aber lassen mich ansonsten in Ruhe.
Donnerstag kommt Daniel herein und setzt sich zu mir aufs Bett. „Nele?“ fragt er vorsichtig und zieht die Bettdecke etwas herunter, um in mein Gesicht zu sehen. „Was ist passiert? Ich habe gehört, dass es zwischen dir und Eileen in der Schule eine heftige Szene gab.“
Ich drehe mich um. „Ich will nicht darüber reden.“ murmle ich in mein Kissen.
„Dann bist du schon die Zweite.“
Ich drehe meinen Kopf und suche Daniels Blick. „Was meinst du?“ Daniel legt den Kopf schief. „Ich hab Eileen heute im Heim getroffen und sie hat mir fast den Kopf abgebissen, als ich mit ihr darüber reden wollte. So übel gelaunt hab ich sie noch nie gesehen. Sie ist völlig außer sich.“
Ich schniefe ein bisschen. „Wirklich?“
Daniel nickt. „Du hast sie ganz schön verletzt.“
Ich drehe mich ganz zu ihm um. „Ich hab Riesenmist gebaut.“ gebe ich zu. Daniel schnaubt. „Das kannst du laut sagen.“
„Hey.“ Ich stupse ihn an. „Du solltest auf meiner Seite sein.“ Daniel streicht mir über den Kopf. „Das bin ich, Schwesterchen. Aber du hast dich wirklich selbst ins Aus geschossen mit deiner Aktion.“
Ich schlucke und sage dann zögernd: „Ich bin verliebt. In Eileen.“
Daniel lächelt. „Ich weiß.“ Ich blinzle und er lacht. „Du meine Güte, schau nicht so überrascht.“ Er streicht mir übers Haar. „Du hättest dich selbst in ihrer Nähe sehen sollen. Du hast gestammelt und bist ständig rot angelaufen. Man hat es dir an der Nasenspitze angesehen, wie durcheinander und verunsichert zu warst.“
Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen und stöhne. „Hab ich mich echt so schrecklich angestellt?“
Ich höre Daniel wieder lachen. „Aber sowas von. Mich wundert, dass es sonst niemand mitgekriegt hat. Alle haben dir den Mist abgekauft, dass es Eileen war, die dich angebaggert hat.“
Ich blicke auf und Daniel mustert mich. „Das wolltest du doch, oder?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe es doch selber nicht gerafft. Erst als es zu spät war.“
Daniel verdreht die Augen. „Weiber!“ Ich schlage nach ihm und er weicht lächelnd aus. „Du machst es dir aber auch nicht leicht.“ sagt er dann. Mir steigen schon wieder Tränen in die Augen. „Ich habs verbockt. Endgültig.“
Daniel streicht mit wieder übers Haar. Es ist tröstlich und mein Blick verschleiert sich etwas, bevor ich loslassen kann. „Ganz ehrlich, Nele? Ich glaube nicht.“ Ich wische mir die Tränen weg und richte mich etwas auf. „Was willst du damit sagen?“ Er reicht mir ein Taschentuch vom Nachttisch. „Sie empfindet genauso wie du, sonst wäre sie nicht so fertig.“ Ich schnäuze und knülle das Taschentuch zusammen. „Nach dem, was ich mir geleistet hab, will sie mich doch nie wieder sehen.“ Daniel nickt. „Im Augenblick – ja. Vielleicht. Es wird schwer, sie davon zu überzeugen, dass du es Ernst meinst.“
„Ich weiß einfach nicht, ob ich damit umgehen kann.“
Daniel grinst. „Na, das sah am Sonntag aber ganz anders aus. Das war heiß – obwohl ich meiner großen Schwester nicht unbedingt beim Knutschen zusehen will!“
Ich gebe ihm einen Klaps auf den Oberschenkel. „Wir haben nicht geknutscht.“ „Aber beinahe.“ Daniel zuckt mit den Schultern. „Du hast ganz schön geglüht. So habe ich dich jedenfalls nie bei den beiden Typen gesehen, die du mal angeschleppt hattest.“
Ich schniefe. „Die hatte mir Nadine vorgestellt. Die waren ganz nett.“ Daniel runzelt die Stirn. „Nele, tu dir selbst und uns einen Gefallen und hör auf, dich nach ihr zu richten.“
„Sie ist meine beste Freundin.“ antworte ich leise. Daniel schüttelt den Kopf. „Wach doch auf. Du hast dich doch nur ihretwegen so aufgeführt. Wenn du Eileen verloren hast, dann wegen Nadine und deiner sturen Treue zu ihr. Und wenn sie wirklich deine Freundin wäre, dann würde sie das verstehen. Und du hättest keine Angst, ihr zu erzählen, wie du empfindest.“
Ich lächle und nehme seine Hand. „Kleiner Bruder, du bist plötzlich ganz schön erwachsen geworden.“
Er grinst. „Tu mir einen Gefallen und erzähl das Mama, wenn wir uns das nächste Mal darüber streiten, ob ich einen Rollerführerschein machen darf oder nicht.“ Ich lache. „Versprochen.“ Dann werde ich ernst. „Aber versprich mir bitte, das du Mama und Papa nichts sagst – und niemandem sonst.“ Daniel hebt seine Hand zum Schwur. „Keine Sorge, das ist deine Sache.“
„Ich weiß nicht, ob ich es fertig bringe. Mich als… lesbisch zu outen.“ Es ist seltsam, es auszusprechen. Daniel zuckt mit den Schultern und legt den Kopf schief. „Naja, zunächst mal solltest du vielleicht damit anfangen, zuzugeben, dass du sie liebst, bevor du dich in eine Schublade steckst. Vor allem, wenn du dich in dieser nicht sonderlich wohl fühlst. Zumindest für den Moment.“
Ich strecke mich und umarme Daniel. „Danke.“ wispere ich. Er drückt mich fest.
„Seit wann weißt du es eigentlich?“ frage ich ihn, als er aufsteht und zur Tür geht. Er lächelt. „Naja, geahnt habe ich es schon, als ich von Eileen gehört hatte, dass du bei ihr warst – angeblich wegen Mathe. Aber dein Blick, als sie dann vor die gestanden hat, so vollkommen hilflos und sehnsüchtig…das war sonnenklar. Ganz zu schweigen von der…Szene.“ Er verzieht das Gesicht. „Deinen Schlafzimmerblick wollte ich nicht unbedingt zu Gesicht bekommen…“ Ich werfe ein Kissen nach ihm und er schließt lachend die Tür hinter sich.
Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen und sehe nachdenklich zur Decke hinauf. Die Welt wirkt nicht mehr ganz so düster, nun, da ich weiß, dass ich zumindest einen Verbündeten habe. Es hat gut getan, darüber zu reden.
Emma ist noch immer stinkig auf mich. Sie hat sich kein einziges Mal gemeldet und mit Nadine wollte ich nicht sprechen.
Mein Blick fällt auf die Nahaufnahme von Eileen. Ich nehme es vorsichtig von der Pinnwand und betrachte es sehnsüchtig. Zärtlich streiche ich mit dem Finger über ihr Gesicht.
Ich will sie zurück. Ich will ihre Hand halten und ihre Nähe spüren. Nach kurzem Zögern greife ich nach meinem Handy und lasse mich verbinden.
„Bischof?“ Ich habe Glück. Es ist Eileen. Mein Herzschlag setzt einmal aus, als ich ihre Stimme höre und ich brauche einen Moment.
„Hallo?“ fragt sie.
„Eileen?“ murmle ich leise. Es wird still. „Ich bin es – Nele.“
„Was willst du?“ Ihre Stimme ist eisig.
„Mit dir reden.“ Ich werde immer unsicherer. Mir fällt einfach nichts ein. Ich bin keine große Rednerin und kann schon gar nicht mit den großen romantischen Worten von Hollywood-Lovestorys mithalten, um sie zu überzeugen.
„Aber ich nicht mit dir!“
Es klickt und sie ist weg. Ich bin entmutigt und ein bisschen verzweifelt. Aber ich nehme mir vor, morgen wieder in die Schule zu gehen. Vielleicht klappt es ja besser mit dem Reden, wenn sie vor mir steht.
10
Mit weichen Knien betrete ich das Schulgebäude. Mir ist mulmig zu Mute, während ich nach Eileen Ausschau halte. Stattdessen entdecke ich zuerst Emma bei den Schließfächern und gehe auf sie zu. „Hi.“ begrüße ich sie. Sie ringt sich zu einem Lächeln durch. „Hi.“ Sie mustert mich von Kopf bis Fuß und ihre trotzige Miene wird weicher. „Du siehst ganz schön beschissen aus.“ stellt sie fest. Ich schneide eine Grimasse. „Danke, ich weiß.“ Sie stellt ein Buch in ihren Spind und holt ein anderes heraus.
„Emma?“ frage ich leise. Sie dreht sich zu mir um und wir blicken uns eine Weile wortlos an. Schließlich seufzt sie und nimmt mich in die Arme. „Wurde auch Zeit.“ murmelt sie in mein Ohr, dann lässt sie mich los. Ich nicke. „Ja, du und Daniel, ihr beide habt von Anfang an verstanden, was mit mir los war.“ Ich stupse sie an. „Aber du hättest mir doch auch was sagen können.“ Emma sieht ein bisschen empört aus. „Du hättest mir sowieso nicht geglaubt. Ist das jetzt meine Schuld?“ Ich schüttle schnell den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“ Emmas Miene klärt sich auf. „Und was hast du jetzt vor?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, was ich zu Eileen sagen soll.“ Emma legt den Kopf schief. „Na, als erstes wäre eine Entschuldigung angebracht. Danach kannst du ja versuchen, ihr ein Liebesgeständnis zu machen.“ Sie lächelt. „Und mit Nadine reden.“
Ich stöhne und verziehe mein Gesicht. Mir graut vor der Vorstellung.
Eileen geht an uns vorbei. Sie ignoriert mich und hält den Blick demonstrativ auf ihren Spind gerichtet. Emma nickt auffordernd mit dem Kopf in ihre Richtung. Ich schüttle den Kopf und das gute Gefühl, dass das gute Verhältnis mit Emma wieder hergestellt ist, verpufft. „Ich hab sie angerufen, aber sie hat mich abgewürgt.“ „Kannst du es ihr verübeln? Die ganze Schule denkt jetzt, dass sie dich beinahe vergewaltigt hat.“ Sie deutet erneut zu Eileen. „Na komm schon. Hier kann sie nicht einfach den Hörer auflegen.“
Ich atme tief durch und gehe langsam auf die hübsche Brünette in Jeans und schwarzem T-Shirt zu, die mir so viel bedeutet und das Herzklopfen stellt sich ein. Ich blende die vorbeigehenden Schüler aus und konzentriere mich auf Eileen. Sie hat mich natürlich bemerkt und klappt die Schließfachtür zu. Sie wendet sich zum Gehen. „Bitte, Eileen.“ flehe ich leise. „Bitte hör mich an.“ Sie wirft mir einen kalten Blick zu. „Lass mich in Ruhe. Ich habe kein Interesse an dem, was du zu sagen hast.“ Ich schlucke und langsam bin ich nicht mehr verzweifelt, sondern hoffnungslos. „Bitte, es tut mir so leid…“ Ich berühre ihren Arm, als sie wieder weggehen will. Sie schüttelt mich ab. „Hast du keine Angst, dass man uns zusammen sieht?“
Ohne eine Antwort abzuwarten geht sie. Emma steht plötzlich neben mir und legt den Arm um mich. „Nicht aufgeben, hörst du?“ sagt sie mit aufmunterndem Lächeln. „Der Tag ist noch lang und ich verspreche dir, du wirst heute noch mehr Möglichkeiten haben, mit ihr zu reden.“
Nadine begrüßt mich überschwänglich. „Süße! Du siehst ja furchtbar aus! Schön, dass du wieder da bist!“ Ich weiß nicht recht, ob ich verärgert oder erfreut sein soll und lasse sie mich fest umarmen. „Du hast doch nichts Ansteckendes?“ Nadine weicht besorgt zurück. Emma prustet neben mir los und auch ich muss breit grinsen. „Nein, keine Sorge.“ Nadine sieht verwundert von Emma zu und mir und zurück. Sie kommt jedoch nicht dazu, den Grund unserer Erheiterung zu erfragen, denn die Stunde beginnt.
Ich kann mich nicht auf den Stoff konzentrieren und drehe mich immer wieder zu Eileen um. Ihre Miene ist undurchdringlich und starr auf die Tafel gerichtet.
Als es klingelt, fasse ich einen Entschluss. Ich zögere und warte, bis die Lehrerin aus der Tür ist, doch als auch Eileen Anstalten macht, zu verschwinden, klatsche ich laut in die Hände. Ich bin über meine eigene Kühnheit erschrocken, denn ich hasse es, soviel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Doch irgendwie muss ich Eileen dazu bringen, mich anzuhören.
„Alle mal herhören!“ sage ich laut. Nadine sieht sehr verwirrt aus und wechselt einen Blick mit Emma, die plötzlich sehr stolz aussieht. Eileen steht stocksteif da, als ich auf sie zugehe. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ganz offiziell.“ Ich sehe mich im Klassenraum um. Ich entdecke viel Verwunderung und Neugier. „Hier kursieren böse Gerüchte über Eileen, weil wir uns am Montag gestritten haben. Ich möchte nur richtig stellen, dass Eileen gar nichts getan hat.“ Ich sehe sie direkt an, doch ich kann ihren Gesichtsausdruck noch immer nicht deuten. „Ich habe mich nur wie ein Riesenarschloch aufgeführt.“ sage ich laut. „Es tut mir Leid, Eileen.“ Ich blicke sie reumütig an und warte. Bis auf einige wenige geflüsterte Worte, ist es still im Klassenzimmer.
„Schön.“ sagt Eileen schließlich. „Danke.“ Sie nimmt ihren Rucksack und geht aus dem Zimmer, zusammen mit den anderen, die mir noch beim Hinausgehen verwirrte Blicke zuwerfen.
Ich bin wie betäubt. Weiß sie denn nicht, wie viel mich diese Szene gekostet hat?
Nadine, Emma und ich sind nun die einzigen, die noch da sind. Emma tätschelt meinen Arm. „Das war sehr mutig. Du hast es versucht.“
Nadine runzelt die Stirn und starrt mich mit Unverständnis an. „Wieso entschuldigst du dich bei dieser Kuh?“ fragt sie. „Weil ich sie gedemütigt habe und das war nicht richtig.“ Nadine sieht skeptisch drein. „Du warst doch im Recht. Wieso muss du dich bei ihr entschuldigen, wenn sie dir an die Wäsche wollte…?“
„Sag mal, kapierst du‘s nicht?!“ Ich falle ihr zornig ins Wort. „Ich habe gerade allen erklärt, dass es nicht so war!“ Nadine wird nun auch ärgerlich. Sie ist nicht im Bilde und das ärgert sie. „Sag mal, spinnst du jetzt völlig?!“ schießt sie zurück. „Warum ist dir ihre Vergebung denn so wichtig? Sie ist eine aus der Freak-Show!“ Sie deutet zur Tür. „Die interessieren sich doch nicht für uns und wir nicht für sie!“
„Wer sagt denn das?“ will ich wütend wissen. „Du weißt doch gar nichts über sie!“
„Ach, und du schon?“ giftet Nadine. „Verdammt, ich erkenne dich überhaupt nicht mehr wieder. Was ist an dieser komischen Ziege so toll, dass du dich so zum Affen machst?!“
„Nenn sie nicht so!“ rufe ich sauer. „Du hast ja keine Ahnung!“
Ich beginne mich in Rage zu reden.
„DU WEIßT NICHT, DASS SIE FREIWILLIG IM TIERHEIM ARBEITET UND BESSER MIT IHNEN UMGEHEN KANN ALS DIE TIERÄRZTE. UND DASS SIE BÜCHER LIEBT UND VIELLEICHT LITERATUR STUDIEREN WILL.“ Nadine steht stocksteif vor mir als ich sie anbrülle.
„SIE IST WUNDERVOLL AM KLAVIER UND WENN SIE SPIELT, SIEHT SIE IMMER ZUERST AUF DIE TASTEN, DIE SIE ALS NÄCHSTES DRÜCKEN WIRD. SIE HAT BLAUE AUGEN UND IHR LINKES SCHIMMERT EIN BISSCHEN GRÜN!“
Ich werde leiser. „Wenn sie in ein Buch vertieft ist, kaut sie auf ihrer Unterlippe.“ Ich stehe da und zittere. „Ihre Hände sind warm und sie riecht nach Zigaretten und Zitronenmelisse. Sie will sich nicht absichtlich gegen alle Konventionen stellen, sondern nur so sein, wie sie ist.“ Ich habe die Hände zu Fäusten geballt und flüstere die letzten Worte.
In Nadines Gesicht wechseln sich Unglauben, Erkenntnis und Schock ab. Sie lässt sich geräuschvoll auf einen Stuhl fallen. „Scheiße Nele!“ sagt sie dann mit fassungsloser Miene. „Du bist total verknallt!“
Ich atme tief durch und nicke. „Hmpf“, macht Nadine und blinzelt. „Du und Eileen. Wow, das muss ich erst mal verdauen!“
„Was glaubst du denn, wie es mir geht?“ frage ich leise und immer noch leicht verärgert, dass sie es sogar jetzt schafft, die Situation auf sich zu beziehen. Und irgendwie erschöpft.
Nadine nickt langsam und lässt ihren Blick durchs Zimmer schweifen. Sie bleibt bei Emma hängen und stutzt. „Du wusstest das, oder? Du weißt schon länger Bescheid.“
Emma zuckt mit dem Achseln. „Naja, ich war auch nicht damit beschäftigt, mich dauernd zu fragen, ob Stefan mal zurückruft oder ob ich mir jemand neues suchen soll.“
Nadine versteht den Wink. Das schlechte Gewissen steht ihr sofort ins Gesicht geschrieben. Sie steht auf, breitet sie Arme aus und umarmt mich fest. „Ich bin so eine schreckliche beste Freundin, Nele. Es tut mir so leid!“
„Ich hab es ja selber lange nicht kapiert und eingestanden erst gar nicht.“ flüstere ich an ihrem Ohr. „Und dann hatte ich solche Angst, weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Wie alle darauf reagieren würden. Wie du reagieren würdest.“
Nadine löst die Umarmung plötzlich ein wenig – nur so weit, dass sie mich ansehen kann. „Diese hässliche Szene am Montag…“ erinnert sie sich und ihre Miene erhellt sich. „Sie steht auch auf dich?“
„Ich glaube schon.“ mutmaße ich vorsichtig. „Aber danach…“ Nadine denkt weiter und ihr freudiges Lächeln gefriert. „Das hast du doch nicht meinetwegen gemacht, oder?“
Ich brauche nicht zu antworten, denn sie sieht es mir an und umarmt mich wieder fest. „Ich bin so eine bescheuerte Kuh“, murmelt sie. „dass ich nicht mitbekommen habe, was mit dir los war. Dabei will ich doch auch nur, dass du glücklich bist, Nele.“
Ich spüre einen großen Kloß in meinem Hals aufsteigen. Und als ob ich die vergangenen Tage nicht genug geweint hätte, fließen mir die Tränen erneut in Strömen die Wangen herunter. Es sprudelt alles aus mir heraus und erzähle Emma und Nadine alles.
Der Abend im Keller, meine plötzliche, unfassbare Faszination, die Möglichkeit, Mathenachhilfe als Ausrede zu benutzen, um sie näher kennen zu lernen. Der Nachmittag bei ihr zu Hause, mein Herzklopfen und die erregenden Gedanken, bevor ich einschlief. Wie ich den ganzen Tag immer wieder an sie denken musste und überall Eileen gesehen und gerochen hatte. Wie sie abends bei mir war und wie nah wir uns gewesen waren, bevor Daniel reinplatzte.
Über unsere ständigen Dispute über meine Freundschaft zu Nadine und schließlich unseren Krach von Montag. Wie ich vor Eifersucht ausgeflippt war, als ich gesehen hatte, welches gute, lockere Verhältnis Emma und Eileen haben. Ich schließe damit und Emma schüttelt ungläubig den Kopf. „Du warst tatsächlich auf mich eifersüchtig? Oh, Nele.“ Sie umarmt mich nun auch. „Ich wusste doch, wie du für sie empfindest. Selbst wenn ich auf Eileen stehen würde, - was Blödsinn ist, weil ich mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass ich nicht lesbisch bin, - käme ich nie auf die Idee, zu versuchen, sie dir auszuspannen!“
Ich wische mir die Tränen weg. „Wieso kannst du dir da so sicher sein?“
Emma grinst. „Daniele aus meinem Fußballteam. Ich war neugierig, also hab ich mit ihr rumgemacht.“
Sie lacht über unsere verdutzten Gesichter. „Schaut doch nicht so! Es war nur einmal und dann war mir klar, dass das nicht mein Ding ist.“
Nadine stöhnt. „Ihr schafft mich, Leute!“
Wir sehen uns alle drei an und prusten los. Vor Erleichterung, dass alles gesagt wurde. Vor Erleichterung, dass diese Geheimnisse unsere Freundschaft nicht gefährdet haben. Befreit und losgelöst kichern wir noch eine Weile vor uns hin, doch irgendwann holt uns die Realität ein.
Wir haben Bio geschwänzt.
Und Eileen hasst mich noch immer.
11
Es tut gut, nicht mehr alles mit mir allein herumtragen zu müssen. Dass Emma und Nadine hinter mir stehen und nun auch mit mir leiden, wenn Eileen mich beflissentlich übersieht, als wir ihr wieder auf dem Flur begegnen.
Nadine schüttelt den Kopf, als ich ihr sehnsüchtig hinterher blicke. „Ehrlich Nele, hättest du dir nicht jemand hübscheres aussuchen können?“ Ich schneide eine genervte Grimasse. „Sie ist hübsch. Du hast sie nur noch nicht lächeln sehen. Wenn du ihr offenes Lachen nur mal gehört hättest…“ seufze ich. „…oder ihr Klavierspiel. Oder wenn du dabei gewesen wärst, wie sie stundenlang in aller Ruhe neben mir saß, um mir zum hundertsten Mal zu erklären...“
„Jaja“, fällt Nadine mir ins Wort und verdreht die Augen. „du bist ja wirklich nicht zu retten.“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich will auch gar nicht gerettet werden.“
Ich weiß, dass Nadine es nicht ernst meint, wenn sie über sie herzieht. Nicht mehr. Doch sie hat an einigem zu kauen – nicht nur, dass ihre beste Freundin offenbar auf Frauen steht, sondern dass sie das auch nicht mitbekommen hat, dass sie sich verliebt hat. Nadine ist wütend auf sich selbst und wie sie zugegeben hat, auch ein bisschen verletzt, dass ich ihr nicht vertraut habe. Doch andererseits gibt sie auch zu, dass sie auch nicht gerade ein Musterbeispiel an Offenheit ist. Ich bin nachsichtig mit ihr und einfach nur froh, dass ich nun befreit ihr gegenüber sagen kann, was mich bewegt.
Als ich am selben Abend im Bett liege und mich mit Eileen vor Augen berühre, kann ich für wenige Augenblicke der Realität entfliehen und mich an einen Ort träumen, an dem sie es ist, deren Finger ich spüre. Ich atme tief und lasse mich von meiner Lust überrollen. Erst als die letzten Nachbeben meines Höhepunktes abgeklungen sind, lasse ich das Trugbild widerwillig in sich zusammenfallen.

„Was machen wir jetzt eigentlich mit dir?“ fragt Emma und nimmt einen Schluck von ihrem Vanille-Milchshake.
Es ist Samstagnachmittag und wir sitzen in einem Kaffee in der Fußgängerzone. Es ist heiß und wir haben einen Platz unter dem großen Sonnenschirm ergattert.
Ich sehe von meinem Schoko-Walnuss-Eisbecher auf. „Wie, mit mir?“ „Willst du wirklich aufgeben?“ Emma schiebt ihr leeres Glas ein Stück von sich weg. „Wegen Eileen, meine ich.“
Mir vergeht der Appetit und ich lege den Löffel weg. „Was soll ich denn tun? Sie will nicht mit mir reden. Ich habs versucht.“
Nadine krallt sich meinen halbvollen Eisbecher. „Versuch es wieder.“ Sie schleckt genüsslich den Löffel ab. „Ich weiß, dass das alles unglücklich gelaufen ist, aber du hast jetzt uns im Rücken.“ Sie beugt sich über den Tisch zu mir. „Ist sie denn den ganzen Kummer wert?“ Ich nicke langsam. Nadine lächelt. „Na, dann ist sie es auch wert, dass du um sie kämpfst.“ „Probier es doch bei ihr zu Hause?“ schlägt Emma vor. Nadine und ich schütteln beide den Kopf. „Sie würde einfach die Tür vor meiner Nase zuknallen.“ „Ja“, stimmt Nadine mir zu. „ihr braucht neutrales Gebiet.“ „Die Schule kommt schon mal nicht in Frage.“ stelle ich sofort klar. „Auch wenn ich mir jetzt über meine Gefühle im Klaren bin und euch alles erzählt habe, bin ich noch nicht bereit, mich vor allen mit einer öffentlichen Liebeserklärung zu outen – schon gar nicht, wenn es so hoffnungslos ist.“
Nadine sieht nachdenklich aus. „Andererseits würdest du ihr damit vielleicht etwas beweisen. Dass du es ernst meinst, zum Beispiel.“ „Nein“, sagt Emma entschieden. „Nele muss nichts beweisen. Außerdem hasst sie diese Art von Aufmerksamkeit – schon die Entschuldigung war ein ungewöhnlicher Schritt. Und das weiß Eileen auch.“ Sie legt ihre Hand auf meinen Arm. „Ich denke, dass sie nur will, dass du du selbst bist und dazu stehst.“
„Arbeitet sie nicht in einem Tierheim?“ Nadine nimmt sich einen Löffel Schokoeis. Emma und ich sehen sie ablehnend an, doch sie korrigiert sich schnell selbst. „Nein, blöde Idee. Bellende Hunde und Gestank.“
Plötzlich hellt sich ihre Miene auf. „Hey, ist das nicht Tresker da hinten? Mit dem hängt sie doch immer ab.“ „Sie spielen zusammen in einer Band, ja.“ antworte ich. „Aber was hast du….Nein Nadine, warte!“ Doch sie springt auf und läuft schnurstracks auf Max Treskenberger zu. Sie sind zu weit weg, um etwas zu verstehen oder um auch nur raten zu können, was sie besprechen, doch als Nadine wieder kommt, strahlt sie übers ganze Gesicht. „Du bist ein echtes Glückskind.“ sagt sie. „Tresker hat mir erzählt, dass sie heute Abend einen Auftritt im Redemption haben. 20 Uhr. Er hat mir verraten, dass es dort einen kleinen Raum für die Künstler gibt.“ Sie klatscht zufrieden in die Hände. „Wir müssen euch nur noch da zu zweit reinkriegen, die Tür abschließen und hoffen, dass es klappt!“ Sie drückt mich kurz. „Übrigens ist Tresker dabei. Er glaubt, dass Eileen dich genau so sehr vermisst wie du sie. Er versucht die anderen aus der Band noch mit ins Boot zu holen.“
Emma runzelt die Stirn. „Das Redemption am Phillipsplatz? Das ist doch so ein Metal-Club. Für sowas hab ich gar nichts anzuziehen.“
Nadine strahlt noch mehr und ich stöhne auf. „Das heißt: shoppen, shoppen, shoppen, Leute.“ Nadine grinst fröhlich in die Runde.
Emma und ich ergeben uns unserem Schicksal und folgen Nadine durch gefühlte hundert Boutiquen. Doch wieder einmal muss ich ihr Durchhaltevermögen und ihren guten Riecher für Angebote bewundern. Und feststellen, dass – so oberflächlich sie auch manchmal scheinen mag – sie nicht nur immer genau weiß, was Emma und mir steht, sondern auch, was wir gerne anziehen. Zielsicher jagt sie durch die Läden und kleidet uns geschmackvoll in Kleider ein, die uns gefallen und unsere Vorzüge hervorheben.
Als wir uns für das Redemption fertig machen, trägt Emma ein schwarzes, eng anliegendes Kleid mit dunkelrotem, peppigem Muster, passende Schuhe und ihre taillenlangen Haare offen. Ein hübscher dunkelroter Haarreif krönt ihren Pony. Nadine bewundert sich in einem schwarzen Minirock, schwarzen Lederstiefletten mit hohem Absatz und einem ausgeschnittenen, sehr figurbetontem Tanktop.
Ich stehe etwas unsicher da in der dunklen Jeans, den Ballerinas mit kleinen Absätzen und schwarzer Spitze und zupfe an dem seidenen Shirt zurecht, dass sich sehr geschmeidig und leicht an meinen Busen schmiegt.
Nadine legt den Arm um mich. „Wunderbar, Mäuschen.“

Tresker wartet bereits auf uns und winkt uns durch eine kleine Seitentür herein. Schon jetzt ist mein Mund trocken und mein Puls rast. Ich weiß nicht, was ich Eileen sagen soll, was sie von mir hören möchte, damit sie mir verzeiht und mir vielleicht eine Chance gibt, mich ihr zu erklären. Dass ich in sie verliebt bin. Dass ich mit ihr zusammen sein will.
Wir betreten den kleinen Raum. Es ist dunkel und miefig. Zwei große schwarze Ledersofas, schon zerschlissen und abgewetzt stehen gegenüberliegend an der Wand und machen den Raum optisch noch schmaler, als er ohnehin schon ist. An den Wänden hängen vereinzelte Poster. ACDC. Nirvana. The Rolling Stones.
Sven, Eileen und ein hübsches Mädchen mit langen blauschwarzen Dreads und einem Lippenpiercing sitzen auf einem Sofa. Malte sitzt gegenüber und hat eine Akustikgitarre auf dem Schoß.
Eileen springt überrascht auf. Sie sieht sofort zornig aus, während Sven und das Mädchen verwirrt dreinblicken. „Was soll das?“ fragt Eileen Tresker mit wütender Stimme. „Ihr beide habt was zu klären.“ antwortet dieser ruhig. „Wir sollten verschwinden.“ fordert er die anderen auf, doch Eileen zwingt das Mädchen, sich wieder hinzusetzen. „Oh nein. Wenn sie was zu sagen hat, dann kann sie es auch allen sagen.“
„Das geht nur euch beide was an.“ faucht Nadine. „Gib ihr eine Chance!“
Eileen verschränkt mit einem höhnischen Gesichtsausdruck die Hände vor der Brust. „Und wieder lässt du sie für dich reden, Nele?“ Ihr harter Ton ist wie ein Schlag ins Gesicht und ich erstarre, kriege den Mund noch immer nicht auf. „Was soll denn dieser ganze Aufstand werden? Noch eine Entschuldigung?“ bohrt sie weiter.
„Würdest du sie vielleicht mal zu Wort kommen lassen?“ giftet Nadine.
„Wenn du dabei bist, hat sie wohl eher neue Demütigungen auf Lager, was?“
„Ganz im Gegenteil, Herzchen“ wettert Nadine. „sie ist hier, um…“
Ich löse mich aus der Erstarrung und halte ihr schnell die Hand vor den Mund, um sie am weiterreden zu hindern.
„Oh, im Gegenteil?“ Eileen lacht kalt. „Heißt das, sie hat ihre Erlaubnis gegeben und wir können alle Freunde sein?“
„Nein.“ krächzte ich. „Keine Freunde.“
Eileen scheint der Wind aus den Segeln genommen zu sein. Sie starrt mich an. Ich weiß, dass das meine einzige Chance sein könnte und rede schnell weiter. „Es war furchtbar, was ich gemacht habe und ich habe dir schon gesagt, wie leid es mir tut – mehrfach.“
Eileen schüttelt den Kopf und seufzt resigniert. „Was willst du von mir, Nele? Ich bin es müde, dauernd versuchen zu müssen, aus dir schlau zu werden. Und ich habe auch keine Lust mehr darauf.“
„Ich will es dir erklären.“ Ich lasse Nadine langsam los, die ihre Beherrschung wieder gefunden hat. „Bis vor einigen Tagen wurde ich auch nicht aus mir schlau, weißt du?“
Eileen blinzelt und ich fahre fort. „Ich habe euch all die Jahre kaum wahrgenommen“ ich sehe von Tresker zu Sven und zurück zu Eileen, „eingelullt in dieses perfekte, bequeme Leben eines angepassten Girlies, das einfach immer nur die Erwartungen anderer lebt und sich niemals damit auseinandersetzen muss, was es sich eigentlich für sich selbst wünscht.“
Ich weiß nicht, woher diese Worte gesprudelt kommen, aber ich lasse mir nicht die Zeit, darüber nachzudenken, um den Wortfluss nicht abebben zu lassen.
„Doch an dem Abend im Keller habt ihr mich, hast du mich, aus diesem Leben gerissen und seitdem kann ich nicht mehr zurück und so tun, als wäre es nie passiert. Ich hatte noch nie so viel Spaß, habe mich selbst noch nie so befreit lachen hören oder eine Person so toll gefunden wie dich.“
„Warum können sie dann keine Freunde sein?“ fragt Sven verwirrt. Tresker verpasst ihm einen Klapps und plötzlich geht Sven scheinbar ein Licht auf. Den anderen auch.
Und Eileen. In ihrem Gesicht spiegeln sich Unglauben, dann Verblüffung und schließlich Misstrauen.
Ich schlucke. „Es ist nicht nur deine Freundschaft, die ich möchte, Eileen.“ Ich halte den Atem an und höre das Blut in meinem Kopf rauschen. Eileen lässt langsam die Arme sinken, doch Misstrauen steht ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Sie lässt ihren Blick über uns drei streifen, bleibt kurz bei Nadine stehen, bevor sie mich wieder ansieht. Dann schüttelt sie langsam den Kopf. „Tu das nicht, Nele.“ flüstert sie. „Tu mir das nicht nochmal an. Nicht, wenn du vorhast, mich nochmal den Löwen vorzuwerfen.“
„Nein“, flüstere ich zurück. „Hab ich nicht vor. Ich meine es ernst.“ Ich schlucke. „Ich habe keine Ahnung, was das aus mir macht und ich bin noch nicht soweit, es weiter zu verfolgen als bis zu dir – aber...“ Ich hole tief Luft. „weiter will ich gerade auch nicht denken. Ich will überhaupt nicht mehr denken. Sondern nur mit dir zusammen sein.“ Ich sehe ihr direkt in die Augen. „Ich bin in dich verliebt, Eileen.“
Eileen rührt sich nicht und starrt mich fassungslos an. Dann werden ihre Gesichtszüge plötzlich weich und sie lächelt zaghaft. „Ist das wahr?“ murmelt sie. Neben mir rollt Nadine mit den Augen und seufzt. „Oh ja, sie ist verrückt nach dir.“
Eileen atmet aus und ihre ganze Haltung entspannt sich. Langsam breitet sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus und wir lächeln uns an.
Tresker räuspert sich und diesmal widerspricht niemand, als alle aus dem Raum an uns vorbei huschen und uns allein lassen.
Wir stehen einen Moment da. Unsicher. Verlegen.
„Ich war so durcheinander.“ sage ich.
Eileen lächelt. „Ich weiß.“ antwortet sie. Dann fügt sie hinzu: „Ich bin auch in dich verliebt.“
„Ich weiß.“ antworte ich und gehe einen Schritt auf sie zu. Im Bruchteil einer Sekunde später überwindet Eileen die Distanz zwischen uns, zieht mich an sich und legt ihren Mund auf meinen. Ihre Lippen sind weich und warm und ich lasse mich vollkommen in dieses Gefühl fallen, als sie über meine streichen. Sanft, aber doch bestimmt. Ich atme ihren Duft ein und schlinge die Arme um ihre Hüfte. In mir bricht ein nie gekannter Sturm los, ein wildes Durcheinander von Erleichterung, Glück und noch einigen Dingen, die ich nicht zu beschreiben in der Lage bin. Völlig losgelöst scheinen wir schweben, während wir uns immer und immer wieder küssen. Ich klammere mich an sie, damit meine weichen Knie nicht unter mir nachgeben, streichle ihren Rücken, als die Welt zum Stillstand kommt und sich schließlich in einen Rausch aus Liebe und einem Hunger nach ihr auflöst. Ich öffne begierig ihren Mund und sie lässt mich mit einem leisen Lachen gewähren, kommt mir entgegen. Ich dränge mich an sie und unser Atem vermischt sich, als sich unsere Zungen berühren und zuerst zärtlich, dann fordernder liebkosen.
Dann lösen wir uns gleichzeitig voneinander und sehen uns atemlos an. Ich sehe in ihren Augen die gleiche Lust, die ich empfinde, doch der Höhenflug muss der Wirklichkeit weichen. Wir befinden uns schließlich immer noch in einem miefigen kleinen Raum in einem Club.
In einem Club, in dem Eileen gleich einen Auftritt hat.
Bevor wir aus der Tür gehen, ziehe ich Eileen nochmal für einen langen Kuss an mich. „In ein paar Stunden bin ich ganz für dich da.“ murmelt sie. „Das will ich hoffen!“ grinse ich und küsse sie erneut. Dann lasse ich sie schließlich widerwillig los und trolle mich zu Emma und Nadine, die einige Meter vor der Bühne warten, auf die Eileen klettert, um sich vor dem Keyboard niederzulassen.
Emma und Nadine strahlen mich an und nehmen mich in die Arme. Nadine kichert. „Du lieber Himmel, du glühst ja wie ne Tausend-Watt-Birne.“ Ich ignoriere sie und drehe mich zur Bühne um. Selig lasse ich die Musik über mich hinwegrauschen und ich bin überzeugt, sie sind gut. Das Mädchen mit den blauschwarzen Dreads steht am Mikrofon und singt mit einer rauchigen, tiefen Stimme. Das ist also Madeleine. Sie zwinkert mir zu.

Nach dem Konzert gibt es reichlich Applaus und sie spielen noch zwei weitere Lieder. Doch schließlich wird es ruhiger und sie packen ihre Instrumente ein. Ich falle Eileen gleich um den Hals und auch Emma umarmt sie. „Das hat wirklich Spaß gemacht. Schön, dass wir dabei sein durften.“ Eileen lächelt zufrieden. Dann stehen sie und Nadine sich etwas unbeholfen gegenüber. Plötzlich streckt Nadine ihre Hand aus. „Wir wurden einander noch nicht vorgestellt.“ behauptet sie. „Nadine – egozentrisches Miststück und furchtbare beste Freundin von Nele.“ Eileen stutzt, dann grinst sie und nimmt ihre Hand. „Eileen. Rebellischer, sturer Bock. Und“ sie bedenkt mich mit einem zärtlichen Blick. „Neles feste Freundin.“ Sie schütteln sich die Hände.
Tresker nimmt außer Eileen und mir noch Nadine mit. Emma, Sven und Malte fahren mit Maddie.
Vor Eileens Haus angekommen, klettern wir beide aus dem Auto und Nadine auf den Beifahrersitz. „Nele?“ grinst sie. „Vergiss nicht, ich will alle Details. Ich will wissen, wie oft, wie lang, wer wem was….?“
Mit hochrotem Kopf werfe ich die Tür zu.
Eileen grinst breit.
„Weißt du“, sagt sie, als wir dem davonbrausenden Auto hinterher sehen. „vielleicht könnte ich sie doch mögen.“




copyright © by Gelireth. By publishing this on lesarion the author assures that this is her own work.



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Zu Tränen gerührt!
Abbeyroad - 18.09.2020 21:23
100%-tig überirdisch
HannahK - 27.10.2019 20:17
Sehr schöne Story
Sandy62 - 29.03.2019 07:20
Sooooo schön
Wirklich toll geschrieben...Kompliment
TicTac82 - 23.07.2017 06:42
fantastisch
Emmy27 - 13.05.2016 00:31

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