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Die versunkene Welt

von maweka


Es ist ein komisches Ding, was da vor mir liegt: Blutig, verquollene Augen, einstummer Mund, scheinbar taube Ohren, kleine, aufgequollene Hände und krummeFüße, die viel zu weich und zu schief sind um zu stehen. Ein kleines Stück,rohes Fleisch, bewegungslos, scheinbar geist- und leblos. Ob dieses Wesenjemals die Augen öffnen wird, um zu sehen? Ob es je sprechen wollen wird? Ob esirgendwann meine Stimme wahrnehmen wird? Werden diese Hände greifen können? Unddiese Füße laufen? Hat es mal eine Geschichte? Ich will es nicht nehmen, esnicht wiegen und wärmen, nicht jetzt und auch nicht später. Dieses Wesen istSchmerz und Entbehrung... wie mein Leben. Beides habe ich mir nicht gewünscht.Ein Kittel betrachtet mich... Was er wohl über dieses Ding da denkt, das nichtstut? Es hat noch nicht mal geschrien, nichts, es ist einfach nur da, faltig undweich. Und allein die Anwesenheit dieses Dings stört mich, es sollte gar nichtda sein. Zu dem Kittel kommen noch ein paar andere, sie stöpseln an meinem Armherum, hieven mich auf ein Bett und schieben mich durch weiße GängeIn mir herrscht Leere. Mir ist nach nichts, keine Regung in mir, nur das Echoeines einzigen, einsamen Schreis eines winzigen Stimmchens in mir, derverhallt.
Neben mir piept es in langen Abständen, Sensoren kleben auf meiner Brust, einSchlauch ragt aus meiner Armbeuge, ein Wattebausch hängt noch in meiner NaseIch habe noch diese kleine Ding vor meinen Augen, es will nicht verschwinden,aber ich kann keinerlei Verbindung zwischen mir und ihm aufbauen, mir fehlt einTeil, es geht einfach nicht, mir ist, als hätte jemand innerhalb der letztenStunden hat jemand die Tür zugemauert, die alte Tür liegt zersplittert in derecke, wie Wachen haben Posten verlassen, es gibt nichts mehr zu beschützen.Im Augenwinkel nehme ich wahr wie die Tür aufgeht. Schlurfende Schritte in meineRichtung, die sich wie glühende Nadeln in mein Hirn einbrennen, sie schmerzen imKopf Die Leere füllt mich immer mehr, um so lauter das Schlurfen wird, um sonäher es kommt. Es erstickt mich. Mir ist, als würde jemand ein Kissen aufmeinen Kopf drücken. Ich schließe die Augen, versuche mich auszuschalten, meinDenken anzuhalten, es zu lähmen. In mir bildet sich eine braune klebrige Masse,sie stößt mir auf. Eine weiße Hand reicht mir wie aus dem Nichts dennierenförmigen Behälter, in den ich mich erbrechen kann, doch umso stärker ichwürge, umso merke ich, dass ich mich nicht erbrechen kann. Ich bin ein einzigerWürgereiz, es durchzuckt meinen Körper wie Spasmen, die immer stärker werden,schmerzen, nicht nur im Bauch und im Hals, sondern auch an den Extremitäten,überall scheint es zu würgen. Die Niere fällt scheppernd auf den Boden.
Ich versuche mich lang zu legen und meine Glieder zu entspannen. Ich versuche zuentspannen, aber immer wieder rollen sich meine Zehen zusammen und vergrabensich meine Fingernägel in meinen Oberschenkeln Die weiße Hand, der bohrendeSchmerz in meinem Kopf hat sich ein Stuhl genommen und sich neben mich gesetzt.Für einen kleinen Moment sind die Bilder weg, dieses Ding hat mich verlassen,nur für einen kleinen Moment. Ich merke, wie sich die weiße Hand unter meineLaken gräbt und nach meiner kleinen, starren, verkrampften Hand sucht. Sienimmt sie und streicht mit dem Daumen über den Handrücken Sie zerrt an ihr,aber meine Arme, meine Schultern, alles an mir scheint steift. Zieht diese Handan meiner, zieht sie an meiner ganzen Person, sie zerreißt mich förmlich, dennsie will nur meine Hand diese Hand Der bohrende Schmerz in meinem Kopf legtsich langsam. Ich schließe meine Augen und stelle mir eine schöne Mohnwiesevor... Ein wunderschöne Mohnwiese, sie scheint kein Ende zu nehmen, ihreBegrenzung ist nur rein optisch und heißt Horizont, in alle vierHimmelsrichtungen: Nach Ost, West, Süd und Nord. Doch hat mal mir nicht einmalbeigebracht, dass Mohn, besonders Mohnfelder, ein Symbol für Krieg sind, dassdas Rot des Mohns rotes Blut bedeutet. Warum muss man immer die schönste Bilderzunichte machen? Warum kann man nicht etwas einfach unerforscht lassen, es inseiner Schönheit belassen, indem man Unwissenheit darüber ausbreitet, einMysterium? Warum können wir das nicht? Warum müssen wir immer fragen? Ich liebediese Mohnwiese, aber im Grunde, denke ich an Blut, auf einem weichen Ding,dessen Füße...
Meine Hand wird etwas kräftiger gedrückt, ich öffne die Augen, ein Kopf hängtüber mir, eine Nase hängt an meiner, ein Lippenpaar an meinem. Ich kann meinenKopf nicht wegbewegen, es geht nicht, so sehr ich gerne würde, ich kann nicht,alles ist steif und lahm. Ich bin selber zu diesem Ding geworden, das nichtstun kann und auch nie etwas tun wird, zumindest nicht hier. Der Kopf entferntsich, er verschwimmt, verschwimmt mit dem Rest des schwachen Farbenmixes, dersich vor meinen Augen ausbreitet, meine Mohnwiese war wenigstens scharf, aberdas hier? Ich sollte nicht hier sein, ich sollte zu hause sitzen, mit einemdicken Bauch, erst in sechs Wochen oder später sollte ich hier sein. Ich habemein Zeitgefühl in den letzten Monaten verloren, ich wusste nicht mehr welcherTag war, welche Uhrzeit nur der Jahreszeit war ich mir noch bewusst. Ich bin inmir, in meinem Bauch versunken... Und jetzt ist mein Bauch weg, mein Bauch istflach, keine Wölbung mehr nichts mehr in mir... Die Leere füllt mich bis zumMund auf, irgendwann werde ich vor Leere platzen, ich werde diese sterilenweißen Wände, so wie ich sie unscharf erkenne, mit meinem Blut bespritzen,besudeln, mein Hirn wird in Brocken an den Wänden kleben, wird Monitore undGeräte verschmutzen: Alles werden sie wegen mir, wegen der, die aus Leeregeplatzt ist, reinigen müssen, erneut streichen, sterilisieren, desinfizieren.
Ich werde an Putzlappen und Pinseln hängen. Ich werde dieses Haus mit demSondermüll verlassen. Der bohrende Schmerz hält nach wie vor meine Hand fest imGriff. Ich glaube, er beobachtet mich. Ich hätte jetzt gerne meine Brille, umihn betrachten zu können, um wieder zu mir zu kommen, um die Posten wieder zubesetzen, vielleicht dieses Mal mit etwas Hoffnung.
Es war die letzten Tage zu heiß... Und ich musste liegen und versinken. Ich habeviel geweint, vor Schmerzen, vor Trauer, weil ich wusste, dass mein Bauch baldflach sein würde. Ich wusste es, es war die einzige Gewissheit in meinemversunkenen Leben. Ich war Atlantis und mit mir ging eine ganze Welt unter. Ichhabe zu meinem Bauch gesagt: „Stirb, bevor ich sterbe! Diese Welt ist es nichtwert gesehen zu werden. Diese Menschen sind es nicht wert mit dir konfrontiertzu werden. Stirb!“ Und mein Bauch ist gestorben... Ich suche immer noch nachdiesem Verbindungsstück zwischen mir und diesem Ding, was da vor mir gelegenhatte... Mein Bauch hatte sogar schon einen Namen, nachdem wir wussten, was esfür ein Bauch ist. Wir wollten ihn Lucile nennen. Mein Bauch sollte Lucileheißen und bildschön werden, wir wollten alles für ihn tun, ihm allesermöglichen, nur ein paar Wochen noch, oder vielleicht ein oder zwei Monate,ich weiß es nicht, dann wäre es real geworden, es war sogar schon alles da.Aber jetzt, jetzt liege ich hier, ich sehe nichts, mir tut alles weh und ichkann nichts mehr tun, ich bin vollkommen ausgeliefert und machtlos und dasalles nur wegen Lucile.
Ich habe verloren, ich habe nicht nur meinen Bauch verloren, auch meine Welt istversunken und gestorben. Es bleibt nichts von ihr, nur ein Raum, der nie genutztwerden wird, denn Lucile sollte mein einziger Bauch sein, kein anderer Bauch kamfür mich mehr in Frage. Lucile...
Der bohrende Schmerz legt seinen Kopf neben meinen, er fasst meine beidenSchultern und zerrt mich nach oben. Ich sitze, mit einigen schnellenHandgriffen holt er die Kopfstütze hoch und drückt mich wiederum dagegen, damitich etwas Halt in meiner Haltlosigkeit habe. Ich will ihn ansprechen, aber esgeht nicht, zwar scheinen sich meine Lippen voneinander zu lösen, aber ichfinde die passenden Worte nicht. Ich will mich entschuldigen, will ihn trösten,aber mir fehlen die Worte. Ich kann einfach nicht. Meine Zunge scheint an meinemGaumen fest zu kleben, und meine Lippen öffnen und schließen sich wie das Mauleines Fisches, der schuppig, silbern glänzend auf dem dem Deck eines Booteswild um sich schlagend um sein Leben kämpft. Der bohrende Schmerz lässt meineHand los, ich nehme das Knarzen des Stuhls wahr, als er sich erhebt, sehen kannich ihn ihn nicht. Der schlurfende Gang fängt von vorne an, abrupt abgelöstdurch das schnelle Surren der Gardinen. Es wird dunkler im Zimmer, alles wirdvon Grautönen überzogen. Ein verschwommenes Schwarzweissbild, mein Verstandtrübt sich immer mehr.
Erneutes Knarzen, die weiße Hand sucht wieder nach der meinen. Ich will siewegziehen, abstoßen, sie gehört nicht zu mir, sie gehört mir nicht. Es war einTraum, den bohrenden Schmerz an mir Teil haben zu lassen, ein Traum, dessenErfüllung nach und nach nichts mehr in mir anstrebte, so sehr ich es mir auchgewünscht habe, und alles in mir diesen Wunsch, als Wunsch, nach gefieberthatte, in den letzten Monaten mit diesem Bauch ist mein Ehrgeiz immer mehrgeschwunden, mein Streben nach Einigkeit versank mit mir. Der Wunsch nachEinigkeit mit dem bohrenden Schmerz, meinem Bauch und mir.
Der bohrende Schmerz war nicht schon immer bohrender Natur, viel mehr hat ersich mit derzeit in diese Richtung hin entwickelt, was weder für mich noch fürihn angenehm war. Es war eine Art schleichender Prozess. Für uns beideunmerklich, aber mein Innerstes wandte sich immer mehr von ihm ab, es lynchtemeine Gefühlsregungen, untersagte ihm den Zugang zu meinen Seelentoren,reagierte gereizt bis hysterisch. Die Spannung meines Inneren zerriss denLebensfaden meines Bauches, und den seidenen Faden, an dem unsere Beziehunghing. Meine Stimmungsschwankungen schoben wir auf die Hormone, aber jetzt wirdmir klar, dass es alles nur eine Vorbereitung auf dieses Ding sein würde, wasdas ende dieser Beziehung bedeuten sollte. Mein Bauch war das letzteBindungsglied zum bohrenden Schmerz, jetzt ist da nur noch das große Nichts,ein elendes Nichts, von dem ich nie gedacht hätte, dass es irgendwann kommt.
Ich spüre nichts mehr, mein Gesichtsfeld wird schwarz, als würde ich in eineandere dunkle Welt eintauchen, meine Umgebung verlieren, mich verlieren, eszieht mich weg. Nichts fängt mich auf, ich falle und falle immer tiefer, keinBoden in Sicht... Nichts... Ich befinde mich in mir, in meiner eigenen Leerefalle ich ohne auf Grund zu stoßen, in meinem eigenen Nichts, in meinem eigenenemotionalen Vakuum. Ich kann nichts mehr hören, nichts mehr riechen, nichts mehrsehen, nichts mehr schmecken, nichts mehr fühlen, mein Herz schlägt mich mehr,ich atme nicht mehr, mein Hirn hat aufgehört zu denken...
Mein Kind ist tot, ich folge ihm...



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comments


Beeindruckend geschrieben.
Hallo Mandy,
deine Geschichte ist wirklich sehr gut geschrieben. Sehr traurig.

Gruß von Anne
Ylenia84 - 13.07.2006 21:54
...
Kampfsocke - 22.06.2006 18:15
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Happy1989 - 22.06.2006 16:29

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