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von einsbiszehn
Es geschah so nebenbei. Am Rahmen der Küchentür lehnend blickte Ann auf einen fiktiven Punkt neben meinem linken Ohr und teilte mir tonlos mit, dass sie mich verlassen wolle: „Ich liebe Dich noch. Irgendwie. Aber ich begehre Dich nicht mehr.“
Wenn ich an einem frühen Morgen wie diesem auf das spiegelglatte Meer hinausblicke, möchte ich auf dem Wasser gehen können, sorglos und nicht mit dem Makel einer Verlassenen behaftet.
Ich habe promoviert, lebte einige Jahre im Ausland und bin mit einem passablen physischen Äußeren gesegnet. Die Regie über mein Leben habe ich nie jemand anderem überlassen. Warum zweifle ich dennoch so sehr an mir? Vielleicht weil immer die Dummen zurückbleiben. Die Schwachen, Bequemen und Langeweiler werden verlassen, die Glücklichen heiraten, bekommen Kinder und ziehen in ein Häuschen am Stadtrand.
Meine Mutter ist davon überzeugt, dass Unglück weiteres Unglück anzieht. Ich könnte jetzt also einer tückischen Nervenkrankheit erliegen oder vom Linienbus, der die kleinen Küstenorte miteinander verbindet, überfahren werden. Frau weg, Reihenhäuschenträume geplatzt und ich unter dem Seziermesser eines gelangweilten Pathologen – amerikanische Autorinnen machen Millionen mit sowas.
Es sind exakt 6625 Schritte von B. nach H., 13.511 von G.M. nach V. und 3546 von C nach T. Anfangs bekam ich noch Wadenschmerzen, weil ich das Laufen auf Sand nicht gewohnt war. Nach zwei Wochen kenne ich jedes Kliff und jede Bucht in einem Umkreis von 30 Kilometern. Ich laufe wie eine Besessene. Kein Weg ist zu weit, keine Anstrengung zu groß. In meiner Ruhelosigkeit gleiche ich Orestes, den die Erinnyen bis zur Besinnungslosigkeit hetzten. Bewegung ist Exorzismus.
Elena natürlich! Hatte ich ihr nicht eingebläut, dass niemand erfahren sollte wo ich bin? Wozu die stolze Flucht, wenn mich Anns Zeilen auch hier erreichen? Ich nehme den Brief an mich und zerreiße ihn ungelesen auf dem Weg zu meinem Zimmer. Drei wütende Zigaretten später möchte ich doch wissen, was mir eine zaghafte Enddreißigerin schreiben könnte. Meine Hände zittern als ich das papierene Puzzle zusammensetze. Vielleicht will sie sich ungelenk bei mir entschuldigen? Ich muss kehlig lachen. Nein, meine Gute, es gibt kein Zurück. Love me or leave me. DU hast es so gewollt, schon vergessen?
Knapp zwei Zeilen Telegrammstil: „Tut mir leid. Ist besser so, glaub mir. Werde Dich immer lieben. Hole bald meine Sachen. Ann.“
72 Buchstaben für 8 gemeinsame Jahre. Macht 9 Buchstaben pro Jahr. Ein mathematischer Bruch hätte mir besser gefallen. Dann aber hätten wir uns vor einem Jahr schon trennen müssen.
Ich ärgere mich, dass ich die Zeichen übersehen hatte.
Warum war ich nur zu bereit gewesen Anns müden Ausflüchten Glauben zu schenken?
Wir hatten uns über gemeinsame Freunde kennengelernt. Bereits zwei Monate später zog sie bei mir ein. Von ihrer offenen Art war ich genauso hingerissen wie von dem Grübchen in ihrem Kinn und ihrem Talent jedem Menschen das Gefühl zu vermitteln die Erde würde sich ganz allein um ihn drehen. Wir träumten von Reisen durch die Sahara und einem gemeinsamen Café, von einem Rudel Kindern und davon die Welt mit unserem Optimismus ein klein wenig verbessern zu können. Es war zum Sterben schön. Es war als ob ich meinen inneren Zwilling gefunden hätte.
Ich rühre mein Frühstück nicht an. Ausdruckslos räumt es die alte Frau, der die Pension gehört, ab. Durch die schmutzigen Scheiben sehe ich den Leuchtturm am Ende der kleinen Bucht. 146 Stufen führen zur Galerie, weitere 22 zur Laterne. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich meine Umgebung nur über Zahlen wahrnehme. Vielleicht suche ich so unbewusst nach einer Ordnung, einer Struktur. Ich beginne die Bücher in den Regalen des Frühstückraumes, die Latten des Zaunes, der das kleine Grundstück umgibt und die Streichhölzer in meiner Tasche zu zählen. Morgen werde ich die 563 Kilometer nach Hause fahren und herausfinden wieviele Frauen dort nach jemandem wie mir suchen.
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Mein Kompliment .. :o)
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kann mich nur dem vorherigen Kommentar anschliessen, lange nicht so gut hier gelesen. )
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