von stayinthelife
Der nächste Morgen, es war ein Samstag, bescherte Anni ein seltsames Gefühlsgemisch. Vorfreude und Versagensangst reichten sich abwechselnd die Hände. Anni mag solche Situationen nicht, die sie nicht beeinflussen kann und sie hatte die leise Ahnung, dass sie keinerlei Einfluss auf den Verlauf des heutigen Abends nehmen kann. Also blieb ihr nur übrig, die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen würden. Die Uhr verriet, dass in wenigen Minuten die Türklingel schellte. Anni nutzte noch schnell die Zeit, um einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu erhaschen. Sie strich noch ein letztes Mal ihre Haare und Garderobe glatt und ärgerte sich ein wenig über den nassen Film, der sich um ihre Hände legte. Warum nur was sie so derart aufgeregt? Die Klingel machte es unmöglich, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Anni öffnete die Tür. Vor ihr stand ihre Lehrerin, schöner denn je, wie Anni fand. Anni machte ihr beiläufig ein Kompliment, die Lehrerin bedankte sich mit einem kurzen Kopfnicken.
Anni griff ihre Handtasche, schlüpfte gekonnt in ihre Schuhe, rief ein kurzes bis später zu ihren Eltern in den Keller und schloss hinter sich die Tür. Als Anni mit allen Sinnen vernahm, dass sie jetzt im Auto neben ihrer Lehrerin sitzt, atmete sie nicht hörbar tief durch. Alle Bedenken über den Verlauf des Abends spielten von einer zur anderen Sekunde keine Rolle mehr und Anni war bereit, das Ruder aus der Hand zu geben und alles so geschehen zu lassen, wie es für die beiden an diesem Abend bestimmt sein sollte.
Die Lehrerin fuhr mit Anni zu einem italienischen Restaurant, ihrem Lieblingsrestaurant, wie sie betonte. Anni fühlte sich geehrt. Der Blick in die Speisekarte verriet, dass heute vornehmer gespeist wurde. Dieses Mal hielt Anni sich mit ihrer Bestellung zurück und überließ zuerst ihrer Lehrerin dem Kellner zu sagen, was sie haben möchte. Sie bestelle einen halben Liter Chianti und versicherte sich kurz bei Anni, ob sie auch ein Glas haben wolle. Anni genoss noch immer, nicht ständig die Führung zu übernehmen und bejahte mit einem bescheidenen Nicken. Der Kellner verschwand und kehrte wenig später mit dem Wein und zwei Gläsern zurück. Währenddessen er ihrer Lehrerin das Glas auf den Tisch stellte und ihr einen Schluck zum Probieren einschenkte, vernahm Anni ein Aufblitzen in seinen Augen. Flirtete er etwa mit ihrer Lehrerin? Anni bekam ebenfalls einen Probiertropfen, doch das Funkeln seiner Augen blieb aus. Nun war sich Anni sicher, dass das Leuchten seiner Augen mehr als bloße Gastfreundschaft zu bedeuten hatte. Anni unterbrach sein Umgarnen, hustete unter vorgehaltener Hand kurz auf und bestellte nun doch als erste. Anni empfand es als sicherer, den Verlauf des Abends nicht ganz dem Zufall zu überlassen. Nachdem ihre Lehrerin dem Kellner ebenfalls ihre Wahl mitteilte, entschwand dieser, sehr beschwingt, wie Anni empfand, Richtung Küche.
Anni wollte ein ungezwungenes Gespräch beginnen und erzählte ihrer Lehrerin, aus aktuellem Anlass, von ihren Eindrücken bezogen auf das Schulprojektes. Anni lobte die Zusammenarbeit der gesamten Schülerschaft und erzählte ein paar Anekdoten, die sich nachmittags während der Spatenstiche zutrugen. Ihre Lehrerin lachte und Anni notierte, dass es ihr weniger schmerzte sie lachen statt weinen zu sehen. Während Anni erzählte, wurde ihre Lehrerin immer ruhiger und Anni hörte regelrecht, wie sich von ihrem Gegenüber die Gedanken überschlugen. Noch bevor Anni fragen konnte, was los sei, stieß der temperamentvolle Kellner an ihren Tisch und servierte den Damen die Bestellung. Beide bedankten sich, nahmen ihr Besteck und beschlossen beinahe zeitgleich noch einen Moment zu warten, bis das Essen etwas abgekühlt sei. Anni griff ihr Rotweinglas, hielt es ihrer Lehrerin zum Anstoßen entgegen und bedankte sich für die Einladung. Ihre Lehrerin sagte, dass Dank an dieser Stelle nicht nötig sei, vielmehr sie sich erkenntlich zeigen möchte für Annis ständige Hilfsbereitschaft. Wie dem auch sei und wem hier an welcher Stelle Dank gebührte, beide schienen sich für Bruchteile von Sekunden sehr verbunden und wohl zu fühlen. Jeder Außenstehende hätte das vorbehaltlos unterzeichnet.
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