von stayinthelife
Anni entschied sich dafür, die Rolle der Beobachterin und Zuhörerin einzunehmen. Sie ging jeden Tag pünktlich zur Schule und nahm mit voller Aufmerksamkeit am Unterricht teil. Das stimmt nicht ganz. Allen Fächern konnte sie mühelos folgen, nur diesem einen nicht. Anstatt sich mit plattentektonischen Prozessen auseinanderzusetzen, musterte Anni ihre Lehrerin. Sie nahm jedes Wort ungefiltert auf, aber nicht das Was war entscheidend, sondern das Wie. Das heißt, Anni hörte zwar zu, verstand aber wenig vom Inhalt des Gesagten. Vielmehr war sie bemüht, die Botschaften zwischen den Zeilen zu verstehen. Das ist gewiss keine leichte Aufgabe, aber Übung macht bekanntlich den Meister. Anni stellte sich also dieser Herausforderung, weil sie, gepackt von der Neugier, wissen wollte, welches Geheimnis die Lehrerin hütet. Damals, so erinnert sich Anni, als sie mit Freunden im Zirkus war, lachten alle über den Clown. Nur Anni konnte nicht so recht lachen. Das fiel selbstverständlich in einer lustigen Gruppe auf. Warum sie nicht lache, wurde sie gefragt. Weil der Clown nicht komisch ist, gab sie zur Antwort. Weil sein Mund eine andere Sprache spricht als seine Augen, schob sie hinterher. Den Kindern blieb nichts anderes übrig, als über Annis Bemerkung zu lachen. Anni hielt für sich fest: Der Clown lügt, aber meine Freunde sagen die Wahrheit, weil ihre Mundwinkel nach oben gehen und die Augen sich mit Freudenwasser füllen. Zurück zur Lehrerin. Was beobachtete Anni? Sie sah, dass die Lehrerin beim Lächeln ihre Mundwinkel immer leicht nach unten zog. Anni konstatierte: sie ist nicht glücklich. Sie sah, dass sie ihre Hände immerfort an ihrer Hose abwischte. Anni notierte: Sie ist nervös. Sie sah, dass sie ihren Ausschnitt des Öfteren vom Hals wegzog. Anni hält fest: Sie bekommt schwer Luft. Nach dem Unterricht nimmt Anni ihr kleines Notizbuch zur Hand und trägt in einer unbeobachteten Ecke ihre Beobachtungen ein. Sie hofft, dass die Notizen ihr dabei helfen, schneller das Geheimnis zu lüften. Wenn Anni nach Schulende mit dem Rad nach Hause fährt, schwirrt immerzu ihre Lehrerin in ihrem Kopf herum. Manches Mal ertappt sich Anni dabei, wie sie bestimmt ihren Kopf schüttelt, verbunden mit der Hoffnung, die Gedanken würden eine andere Richtung einschlagen.
Am nächsten Tag, es ist ein Samstag, begegnet Anni ihrer Lehrerin beim Spaziergang. Man könnte hier von einem Zufall sprechen, weil immerhin über dreißigtausend Menschen in der Stadt wohnen. Anni glaubt aber nicht an Zufälle, für sie ist es Bestimmung. Anni fühlt sich in dieser Situation sehr privat und erwachsen, also das ganze Gegenteil von öffentlich und jugendlich. Die private Situation ausnutzend fragt sie ihre Lehrerin nach ihrem Befinden. Diese holt tief Luft und sagt, dass es ihr gut gehe. Sie sagt es mit leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln und einem trüben Blick. Anni setzt nach. Sie sagt, dass sie ihr das gerne glauben möchte, aber sie spürt etwas anderes. Die Lehrerin zeigt sich sehr irritiert, scheinbar kann sie gerade jetzt schwer mit der Situation umgehen. Ihr Blick fällt auf den Boden und sie gibt Anni zu verstehen, dass sie ihr nicht sagen könne, was sie bewegt, schließlich sei sie, Anni, ihre Schülerin. Anni befürchtet in diesem Moment, nicht mehr Herr der Lage zu sein und entschließt sich dazu, die Hand der Lehrerin zu nehmen. Anni ist willens, sich ein Herz zu fassen und der Lehrerin auf einer vertrauensvollen Basis, die noch nicht geschaffen wurde, zu begegnen. Dieser Schritt ist gewagt, aber Anni spürte in dieser einen Sekunde, dass diese Geste des Gefühls und Verständnisses unaufhaltsam ist. Anni nimmt die Hand wortlos und versendet das Signal, dass alle Grenzen soeben aufgehoben wurden. Es ginge gerade eben nicht um Abhängigkeitsverhältnisse, sondern um Mitgefühl und Menschlichkeit. Die Lehrerin nahm die Einladung an, vermutlich, weil sie sich so sehr wünschte, dass ihr jemand die Hand reicht. Sie öffnete für einen Moment ihr Herz und ihre Augen. Anni blieb nun nichts anderes übrig, als sie zu sich heranzuziehen und ihr tröstend über den Rücken zu streichen.
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