von Eiraith
Unsere erste wirkliche Begegnung fand erst viele Wochen später statt, als ich sie schon fast wieder vergessen hatte.
Es war nur ein unwirkliches Gefühl des Wunderns geblieben, das mich viele Kleinigkeiten meines einst gewohnten Alltags hatte hinterfragen lassen.
Alles in allem war ich verwirrt wie schon lange nicht mehr, fühlte mich ein wenig wie in einer zu spät stattfindenden Pubertät.
Ich fing an mein Studium der Sozialpädagogik anzuzweifeln, mein geordnetes aber durchaus langweiliges Leben, mein praktisches aber unbewohnt aussehendes WG-Zimmer, mich selbst - einfach alles.
Aus diesem Gefühl der inneren Unruhe heraus - und von der brennenden Mittagssonne gezwungen - hatte ich mich entschlossen, einen Waldspaziergang zu machen.
Ich liebte die dortige Ruhe, die Kühle, das vereinzelte Knacken eines Astes oder Rauschen eines Baumes.
Nach etwa einer Stunde des ziellosen Wanderns ließ ich mich unter einem Baum an einer Lichtung nieder, kaute an einem Grashalm und ließ meine Gedanken schweifen.
Plötzlich knackte es über mir, etwas schabte über Holzrinde, und ein angebissener Apfel sauste knapp an meiner Nase vorbei und prallte schmerzhaft auf meinem Fußknöchel auf.
Ich sprang auf, fluchte über den Schmerz in meinem Knöchel und schaute in die Baumkrone über mir.
"Es tut mir leid, ich muss eingeschlafen sein" hörte ich da eine Stimme.
"Wurdest du getroffen?"
Ich schaute genauer hin, und tatsächlich. Die Löwenzahnflüsterin beugte sich weit von einem Ast herunter.
Als sie mich sah - ich war zu perplex, um so schnell zu antworten - machte sie eine einladende Handbewegung.
"Komm doch auch hoch - und magst du den Apfel mitbringen?" Sie hatte den Anstand beim zweiten Teil des Satzes wenigstens etwas verlegen zu klingen.
Überfordert schaute ich den Baum entlang. Wie um Himmels Willen sollte ich da hochkommen?
"Es ist ganz einfach, schau mal auf die andere Seite."
Sie hatte recht. Auf der Rückseite des Stammes war zwar nicht die erhoffte Treppe, aber immerhin genug Äste, um es für mich wenigstens ansatzweise möglich zu machen.
Mein Hirn schien ausgeschaltet zu sein, denn ich begann tatsächlich mit dem Aufstieg, meine leichte Höhenangst und weniger leichte Unsportlichkeit vergessend.
Ich schaffte es irgendwie hinaufzugelangen, hatte aber natürlich den Apfel vergessen.
"Ach, macht auch nichts" sagte sie schulterzuckend und lächelte mich an.
Ich lächelte auch, schien aber zu mehr nicht fähig zu sein.
"Idiotin!" schalt ich mich selbst innerlich.
"Ohjeh, das sieht ja böse aus", bestritt sie weiterhin die Unterhaltung, auf meinen Knöchel schauend, der langsam eine leichte Rotfärbung annahm.
"Weißt du, ich lag hier so gemütlich, und scheine beim Apfel essen eingeschlafen sein. Ich hätte besser aufpassen sollen!"
Ich bemerkte, dass sie leuchtend grüne Augen hatte und ihre Nase von Sommersprossen getupft war.
Braungebrannt war sie auch. Aber nicht die oft unecht wirkende Bräune von Strandliegern, sondern die gesunde Bräune von Menschen, die sich tagelang draußen aufhalten.
Ich weiß nicht, was sie von mir dachte oder an mir bemerkte, aber einen besonders intelligenten Eindruck kann ich nicht gemacht haben, denn immerhin hatte ich nach wie vor nichts gesagt.
Verlegen räusperte ich mich.
"Es ist nicht so schlimm" brachte ich nun doch über die Lippen.
"Wieso schläfst du in Bäumen?" fragte ich anschließend, nicht sonderlich helle. Kurz darauf hätte ich mich für diese Frage schon ohrfeigen können.
Aber sie lächelte nur wieder, dachte kurz nach und antwortete dann:
"Eigentlich wollte ich ja heute gar nicht schlafen. Ich bin oft hier, ich liebe diesen Wald und das Leben, das hier so echt und frei stattfindet. Wenn ich lange genug hier liege empfinden sie mich nicht mehr als Eindringling, weißt du?"
Ich wusste nicht, nickte aber. Ihre Worte ließen in mir etwas nachklingen, aber ich konnte nicht fassen was.
Später erfuhr ich, dass sie mit "sie" nicht nur die Tiere des Waldes gemeint hatte, sondern auch Feen, Kobolde und weitere Schatten- und Lichtgestalten.
Einerseits verbrachte sie ihr Leben weit weggeträumt, andererseits lebte sie mehr in der Realität als die meisten anderen Menschen, die ich damals kannte.
Sie faszinierte mich zunehmend.
Diesen Tag verbrachten wir großteils schweigend in ihrem Baum. Normalerweise fiel es mir immer schwer, in Gegenwart anderer Menschen zu schweigen, aber mit ihr wirkte es natürlich und richtig. Und nach und nach bemerkte ich auch wenigstens ansatzweise, was sie mit ihrem Satz gemeint hatte. Nach einer Weile der Stille schien um uns her alles lebendiger zu werden, der Wald fühlte sich ungestört und die in ihm lebenden Wesen erwachten.
Ich beobachtete sie verstohlenund ab und an begegnete ich ihrem Blick. Also schien auch sie mich zu beobachten. Etwas schwang zwischen uns.
Ich fühlte mich wohl.
Schließlich brachen wir auf.
Reichlich unelegant versuchte ich den Baum wieder hinunterzukommen. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht lachte.
Ich nahm mir - mal wieder - vor, in Zukunft wirklich mehr Sport zu treiben und meine verkümmernden Muskeln auf Vordermann zu bringen.
Wir trennten uns lächelnd voneinander.
Erst hinterher fiel mir auf, dass ich weder ihren Namen wusste, noch wo ich sie wiedertreffen könnte.
Dieser Gedanke schmerzte mich, und der Tag endete für mich fast noch verwirrender als er angefangen hatte.
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